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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 11

Made in Germany

Der Einbruch des D-Romans in Deutschland ist dem Einbruch eines fremden Geistes weithin vergleichbar.
Die meisten D-Romane sind eine Apologie des Kapitalismus. Es gibt keinen sozialistischen Detektivroman.

Erich Thier. Über den Detektivroman. 1940.


ergleichbares wie in Skandinavien gilt für die neue deutsche Welle in den sech­zi­ger, siebziger und achtziger Jahren, die inzwischen durch hunderte von Pro­vinz­ro­ma­nen abgelöst wurde, die beim deutschsprachigen Lesepublikum großen An­klang fanden und ein ausgesprochener Verkaufserfolg wurden: Die Verleger hatten ei­nen Nischenausweg aus dem bedrohlich zurückgehenden Buchverkauf gefunden, den Re­gio­nal­krimi, eine volkstümliche Form des Kriminalliteratur — eine Mischung zwischen Hei­mat­ro­man mit Leiche und Reise­beschreibung in die Umgebung der Leser: anfangs Ruhr­ge­biet und Rhein­land, die Umgebung von Dortmund und Köln, inzwischen auch Nord- und Süddeutschland.

Nachdem in den ersten zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die De­tek­tiv­ro­ma­ne meist englischsprachiger Autoren auf dem deutschen Buchmarkt ton­an­ge­bend wa­ren, tauch­ten in den sechziger Jahren deutschsprachige Autoren mit dem neuen deut­schen Kriminalroman auf, unter ihnen Hansjörg Martin, Friedhelm Werremeier, Horst Bosetzky (als -ky), Michael Molsner, Stefan Murr und eine Frau: Ire­ne Rodrian.

Der Detektiv im Detektivroman ist ursprünglich eine unabhängige Gestalt, vor allem die hard-boiled Spürhunde besitzen eine Freiheit, eine Lust zum Abenteuer und damit auch eine — nicht nur moralische — Eigenverantwortung, die den Deutschen und an­de­ren Europäern abgeht.

Die britischen und amerikanischen Detektivgestalten passten nicht in die ge­sell­schaft­lichen Strukturen in Deutschland. In Deutschland gibt es keine unabhängigen Pri­vat­de­tek­tive der angloamerikanischen Art. Es gibt die Polizei und Staatsanwaltschaft in einer verwalteten Welt — und damit den verbe­amteten, abhängigen Detektiv. So im­por­tier­ten deut­sche Autoren Kommissar Simenon aus Frankreich, bauten ihn ein wenig um und passten ihn der bür­gerlichen Normalität der Deutschen an: autoritär, aber wohl­wol­lend väterlich, diszipliniert und pflichtbewusst.

Wenn mit einer „Watson-Figur“ gearbeitet wurde, konnte auch ein verknöcherter, geis­tig nicht flexibler Kriminalkommissar auftauchen, während der Detektiv zum Bei­spiel ein Werbefachmann oder der Leiter eines Fernsehteams sein konnte.

Die Autoren sehen dabei auch die deutsche Realität der korrupten sozialen und po­li­ti­schen Hierarchien, die den von Raymond Chand­ler beschriebenen amerikanischen Ge­sell­schafts­struk­tu­ren nur zu sehr ähnelt:

spaceholder red  „ … wo Recht und Ordnung Dinge sind, über die wir reden, aber nicht praktizieren … eine Welt, in der Sie … sehen können, wer es getan hat, aber Sie schnell wieder in der Menge abtauchen, … weil die Täter vielleicht Freunde mit langen Flinten haben oder die Polizei Ihre Aussage nicht mag — und auf jeden Fall wird es dem Win­kel­ad­vo­ka­ten der Ver­tei­di­gung erlaubt sein, Sie vor einem offenen Gericht zu beleidigen und zu verleumden, vor … ausgewählten Idioten, ohne irgendeine außer vielleicht einer sehr oberflächlichen Einmischung durch einen politisch motivierten Richter.“

Aber viele der Protagonisten wissen, dass sie gegen Windmühlen nicht ankämpfen kön­nen. So werden bei Hansjörg Martin die Hauptakteure in einem Roman (Kein Schnaps für Tamara, 1966) beschrieben als: „Hans Obuch: ein Werbefachmann mit ro­man­ti­schen Regungen“ (der Detektiv) und „Kommissar Burwinkel: ein Beamter ohne ro­man­ti­sche Regungen“, zusammen mit „Krim. Ass. Müller: ein Beamter — Punkt“ (die Wat­sons).

Das Buch spielt in Norddeutschland im Jahre 1951:

spaceholder red  Es war ein Spätnachmittag im Oktober. Das flache Land mit seinem ewigen Wind, der nach Torfrauch riecht und nach Salzwasser und Schlick, lag unter einem grauen Him­mel, der zu meiner Laune passte, wie extra dafür gemacht.

 Der Zug wurde hier eingesetzt, war aber noch nicht im Bahnhof. Ich konnte die Wa­gen draussen auf einem Abstellgleis in der Dämmerung stehen sehen. Es war zu kalt und zu trist, um die halbe Stunde bis zur Abfahrt auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen, also setzte ich mich in dem muffigen Bahnhofsrestaurant auf eins der plüsch­be­zo­ge­nen Sofas, direkt unter einen Stahlstich, der den glorreichen Untergang eines kai­ser­li­chen Kriegsschiffes der Nachwelt überlieferte.

 Ich bestellte mir bei dem Wirt, der nach Bratkartoffeln roch und nach Rheuma aus­sah, einen großen Korn. Der Korn ist das Beste in jener Gegend: Klar, sauber und süf­fig. Er schmeckt nach Sommer und Wiese und ein wenig nach Rauch und überhaupt so, daß ich den Bauern beinahe verstehen kann, der sich — so erzählt die Legende — da­von zweihundert Flaschen gekauft, damit seinen Badezuber gefüllt und sich darin selbst ins Jenseits befördert haben soll.

 Nur das Etikett auf den blaugrünen Flaschen wird mich zeitlebens stören, denn da ist groß der Name des Mannes zu lesen, bei dem ich in diesen drei Tagen nicht für fünf Pfennig Erfolg gehabt hatte, obwohl er Millionär ist. Dabei rechnete mein Chef da­mit, da ich einen Halbmillionen-Auftrag mitbringen würde.

 Der Name auf dem Etikett wird mich auch noch aus einem anderen Grunde zeit­lebens stören. Er wird mir jedesmal ein kaltes Gruseln über den Rücken jagen … Aber das wußte ich noch nicht, als ich unter dem sinkenden Schlachtschiff saß und trotzig bei dem Bratkartoffelwirt den zweiten Doppelten bestellte.

Beginnend in the sechziger Jahren wurden deutsche Kriminalromane oft für deutsche Fern­seh­sender verfilmt, angefangen bei den Büchern mit Kommissar Leo Klipp von Hans­jörg Martin oder Kom­missar Trimmel von Friedhelm Werremeier — ganz nach Alfred Hitch­cocks Äußerung im Observer 1965:

spaceholder blue  “Television has brought back murder into the home — where it belongs.“

Viele der deutschsprachigen Bücher verlassen den festgelegten Rahmen des her­kömm­li­chen Detektivromans von Verbrechen, Ermittlung und Auflösung — und viele Autoren glau­ben, leicht zu lesende Bücher sind auch leicht zu schreiben, ein Irrtum. Im Jahre 1983 veröffentlicht die Süddeutsche Zeitung in ihrer Feuilleton-Beilage einen Artikel von Rainer Stephan „Zu viele Stümper am Werk: Das Elend des deutschen Kri­mi­nal­ro­mans“. Stümper finden sich weiterhin.

Einige der Autoren schmückten sich mit dem zweifelhaften Literatenglanz, zur 68er-Generation zu gehören und soziologische Krimis zu schreiben; andere schrieben leicht, angenehm lesbare Unterhaltung — Unterhaltung mit Mord. Die neuen deutschen Kri­mi­nal- und Detektivromane waren politisch korrekt und dem neuen deutschen so­zial­po­li­ti­schen Klima mit erhobenen Zeigefinger angepasst. Sie waren für den provinziellen deutsch­spra­chi­gen Binnenmarkt geschrieben: gesellschaftskritischer Johannes-Mario-Sim­mel-Stil verschnitten mit Edgar Wallace, leicht, locker, entweder weltrettend oder zurückgezogen resigniert: Man kann ja doch nichts machen.

Ausnahmen bestätigen die Regel, aber sie bleiben unter den mindestens 500 als Kri­mi­nal­ro­ma­ne in Deutschland pro Jahr veröffentlichten Büchern eine Ausnahme.

Zwei Ausnahmen seien herausgepickt: Bernhard Schlink mit seiner teilweise zusammen mit Walter Popp verfassten Triologie Selbs Justiz, Selbs Betrug und Selbs Mord. Der andere ist Jacob Arjouni mit Happy Birthday, Türke!, Kemal Kayankaya erster Fall. Wei­te­re Fälle folgten.

Schlink jagt der deutschen Nazi-Vergangenheit nach, Arjouni hat dies auch im Sinn, aber sieht auch den täglichen Rassismus in Deutschland. Schlink führt seinen Pri­vat­de­tek­tiv Gerhard Selb, 68 Jahre alt, so ein:

spaceholder red  Dann … ich erinnere mich gut an den Morgen. Mir lag die Welt zu Füßen. Mein Rheuma ließ mich in Ruhe, mein Kopf war klar, und im neuen blauen Anzug sah ich jung aus — fand ich jedenfalls. Der Wind trieb den vertrauten Chemiegestank nicht hierher nach Mannheim, sondern hinüber in die Pfalz. Beim Bäcker am Eck gab’s Schokoladenhörnchen, und ich frühstückte draußen auf dem Gehsteig in der Sonne. Eine junge Frau kam die Mollstraße entlang, kam näher und wurde hübscher, und ich stell­te meine Einwegtasse auf das Schaufenstersims und ging hinter ihr her. Nach we­ni­gen Schritten stand ich vor meinem Büro in der Augusta-Anlage.

 Ich bin stolz auf mein Büro. In Tür und Schaufenster des ehemaligen Tabakladens habe ich Rauchglas setzen lassen und darauf in schlichten goldenen Lettern:

Gerhard Selb • Private Ermittlungen

 Auf dem Anrufbeantworter waren zwei Anrufe. Der Geschaftsführer von Goedecke brauchte einen Bericht. Ich hatte seinen Filialleiter des Betrugs überführt, der wollte es genau wissen und hatte seine Kündigung vor dem Arbeitsgericht angefochten. Mit der anderen Nachricht bat Frau Schlemihl von den Rheinischen Chemiewerken um Rück­ruf.

 „Guten Morgen, Frau Schlemihl. Selb am Apparat. Sie wollen mich sprechen?“

 „Guten Tag, Herr Doktor. Herr Generaldirektor Korten möchte Sie sehen.“ Niemand außer Frau Schlemihl redet mich mit Herr Doktor an. Seit ich nicht mehr Staats­an­walt bin, mache ich keinen Gebrauch von meinem Titel; ein promovierter Pri­vat­de­tek­tiv ist lächerlich. Aber als gute Chefsekretärin hat Frau Schlemihl nie vergessen, wie Korten mich ihr bei unserer ersten Begegnung Anfang der fünfziger Jahre vor­ge­stellt hatte.

 „Worum geht es?“

 „Das möchte er Ihnen gerne beim Lunch im Kasino erläutern. Ist Ihnen 12.30 Uhr recht?“

Bei Raymond Chandler (The Little Sister — Die kleine Schwester) liest man:

spaceholder red  „An der Rauhglas-Türscheibe steht mit abblätternder schwarzer Farbe:
Philip Mar­lowe — Ermittlungen.“

Bei Schlinks Gerhard Selb sind die Lettern golden.

Damit endet aber der amerikanische Stil von Bernhard Schlinks Selb-Trilogie. Der Ver­fas­ser konzentriert sich wie auch in einigen seiner weiteren Bücher auf das Nachleben von Nationalsozialismus und Faschismus in der deutsche Gesellschaft, ein Stoff, der spezifisch deutsch ist und der gerne in sogenannten Nazi-Krimis abgehandelt wird. Die De­tek­tiv­ge­schich­te dient als Verpackung politischer und sozialer Aufarbeitung.

Andere beliebte Themen sind Multikulti und Xenophobie (allerdings nur die Frem­den­feind­lich­keit der Deutschen, nicht die der Migranten), Geschlecht und Sexualität, und po­li­ti­sche wie journalistische Korruption, und andere mehr, je nach ideologischer Groß­wet­ter­lage.

Jacob Arjouni macht seinen Privatdetektiv Kemal Kayankaya zum türkischen Anti-Helden, obwohl er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Zum türkischen Helden wurde er später durch eine po­li­tisch und ideo­lo­gisch kor­rek­te Film­regisseurin umstilisiert, ohne dass ihr die absurde Unvereinbarkeit mit der deutschen Wirklichkeit auffiel. Kayakanya deckt nicht ausländische Kriminelle auf, sondern ein kriminelles Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, in dem machtlose Menschen gefangen sind — kein Ausländerproblem, wie Arjouni sagte, sondern ein Naziproblem. Auf der anderen Seite setzt sich sein Protagonist für Außenseiter ein, verprügelt Homosexuelle, und führt Schmäh­reden gleichermaßen gegen deutsche Bürokraten, Umweltschützer und linke Stu­den­ten­gruppie­rungen.

Bemerkenswert ist, dass Arjouni und Schlink unter den wenigen deutschen Autoren sind, die in englischer Übersetzung erschienen sind — sie scheinen nicht unter das Ur­teil zu fallen: "too local, too regional, too German". Sie bedienen allerdings auch inter­natio­nale Vorurteile.

Was ist mit Österreich — gibt es dort Detektivromane? Wurden österreichische Kri­mi­nal­ro­mane ins Englische übersetzt?

Lang ist‘s her: Milo Dor (1923-2005) und Reinhard Federmann (1923-1976) verfassten zwei Thriller: Internationale Zone (1953), Und einer folgt dem anderen (1953). Wieder standen hier die Romane von Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Eric Ambler und vor allem Graham Greene's Der dritte Mann Pate.

Nachdem die Autoren mit ihren anspruchsvollen literarischen Projekten wenig Erfolg hatten, begannen sie in Teamarbeit Unterhaltungsliteratur zu verfassen, die sich an anglo-amerikanischen Vorbildern orientierte. Dor schrieb im Jahre 2003:

spaceholder red  "Da wir beide offenbar keine begnadeten Kaufleute waren, ... beschlossen wir, nach amerikanischen Vorbildern Kriminalromane zu schreiben, um ein wenig Geld zu verdienen. Es war viel leichter, gemeinsam in einem lockeren Gespräch eine Handlung zu konstruieren und Personen und Situationen zu erfinden, als sich allein damit herumzuquälen. Das war das ganze Geheimnis unserer Zusammenarbeit. Außerdem verstanden wir einander sehr gut, was sich bei zwei deklassierten Außenseitern der Gesellschaft beinahe zwangsläufig ergibt."

Im Viersektoren-Nachkriegswien stehen einheimische und zugewanderte Schieber, Schwarz­händler und Unter­weltler auf der einen Seite, Vertreter der vier Be­satzungs­mächte auf der anderen, und alle kungeln miteinander. In Internationale Zone gibt es mit Ausnahme des im Hintergrund stehenden Schriftstellers Petre Margul keine einzige positive Figur. Der Schmuggel und Verkauf von Zigaretten verbindet sich mit Spionage und Menschenraub. Die sowjetischen Besatzer helfen aktiv bei der Beschaffung des Schmug­gel­gu­tes: die erwartete Gegenleistung ist die Auslieferung von ‚Feinden der Sow­jet­union‘, die sich in den nicht-sowjetischen Sektoren aufhalten.

Charakteristisch für diese Romane ist, dass sie innerhalb der Grenzen eines Thrillers immer wieder erstaunlich scharfe Blicke auf zeitgeschichtliche Phänomene werfen, und ein genaues Bild der gesellschaftlichen Atmosphäre des frühen Kalten Krieges in Wien und Umgebung gezeichnet wird.

Spätere österreichische Detektivromane oder Thriller deckt das Schweigen — aber wiederum: Ausnahmen bestätigen die Regel.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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