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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 2

Die Vorläufer des Romandetektivs

Προαιρεῖσθαί τε δεῖ ἀδύνατα εἰκότα μᾶλλον ἢ δυνατὰ ἀπίθανα.

Wahrscheinliche Unmöglichkeiten sind unwahrscheinlichen Möglichkeiten vorzuziehen.

Aristoteles. Poetik. 1460a. Um 335 v. Chr.


eheimnisvolle und rätselhafte Begebenheiten spre­chen und spra­chen schon im­mer das Lesepublikum an. Sie fes­seln den Leser der Bibel ebenso wie den an­ti­ker grie­chi­­scher und rö­mi­scher Schrift­stel­ler. Eines der be­kann­tes­ten Bei­­spie­le aus der Zeit der Blüte des grie­chi­schen Alter­­tums ist Herodots Schilde­rung der Be­rau­bung des ägyp­tischen Königs Rhampsinit in seinen Historien.

Auf unerklärliche Weise verschwinden aus Rhampsinits Schatzkammer große Mengen Goldes. Rhampsinit ver­sucht, den Räuber zu fassen, doch dies gelingt ihm erst, nach­dem er eine hohe Belohnung ausgesetzt hat, weswe­gen sich der Dieb schließlich selbst bei ihm meldet. Rhampsinit tut nichts Aktives zur Aufklä­rung des Verbre­chens, ihn als De­tektiv zu bezeichnen, ging wohl etwas zu weit; doch aus der gleichen Zeit ist auch die Rätselfra­ge der Sphinx an Ödipus überliefert:

spaceholder red  Es gibt ein zweifüßiges Wesen auf der Erde und ein vier­­füßi­ges und ein drei­füßi­ges, das eine einzige Stimme be­­sitzt. Es verändert aber als einzi­ges von allen Tieren, die sich auf der Erde, in der Luft und im Meer bewe­gen, sei­ne Gestalt. Aber wenn es auf die meisten Füße gestützt geht, dann be­wegt es sich am langsamsten.

Ödipus kennt die Antwort: Es ist der Mensch, den die Sphinx beschreibt. Als Säugling krab­belt er auf Händen und Füßen, als Erwachsener geht er aufrecht auf seinen zwei Beinen und als Greis stützt er sich auf einen Stock, sein drittes Bein.

Ernst Bloch bezeichnete die Antwort des Ödipus als den „Urstoff des Detektori­schen schlechthin“; allerdings spielt sich die gesamte Tragödie des Ödipus in ei­ner irrealen Welt der Fabelwesen und Götterflüche ab — sie ist eher Mythos denn De­tek­tiv­ge­schich­te.

Durch den Niedergang der antiken Kulturen verschwand auch alles Schrifttum, das sich mit der Lösung eines Rätsels oder einer Deduktion beschäftigte. Erst die Epen des späten Mittelalters und die Abenteuerromane der frü­hen Neuzeit, zum Beispiel Grim­mels­hau­sens Simplizius Simplizissimus (1668), führten die An­sätze des Altertums fort; sie sind für ein relativ einfaches und naives Publi­kum geschrieben, in einer Zeit, da diese Schriften nach der Erfindung der beweg­lichen Lettern im Buchdruck weite Ver­brei­tung finden konn­ten.

Elemente der Detektivgeschichte treten besonders deut­lich in dem Buch Le voyage et les aventures des trois Princes de Serendip — traduit du Persan auf, die der Che­valier de Mail­ly im Jahre 1719 in Paris veröffentlichte. Hier wird von den Reisen der vier orientalischen Prinzen Modhar, Rabi‘a, Iyad und Omar er­zählt.

spaceholder red  Eines Tages gelangen die vier zu einer Wiese, deren einer Teil abgegrast ist, wäh­rend der andere noch hoch mit Gras bewachsen ist. Den staunen­den Zuhörern erklärt Modhar, daß ein Kamel dort gefressen habe, wel­ches au­genscheinlich auf dem rech­ten Auge blind sei; Rabi‘a fügt hinzu, daß es auf dem rechten Fuß lahme; Iyad er­klärt, des Kamels Schwanz sei gestutzt, und Omar be­merkt schließlich, es sei ent­wi­chen oder wild.

 Verblüfft bejahen dies die Zuhörer und fragen, wie die Prinzen diese Fakten über ein Kamel wissen können, das sie vorher noch nie gesehen haben. Die Erklärungen der Prin­zen dafür sind sehr einfach: Das Kamel ist einseitig blind, da es ja nur eine Sei­te der Wiese abgegrast hat, und zwar nicht einmal den Teil, auf dem das saftigste Gras steht; es lahmt, da sich ungleiche Fußabdrücke im Sand befinden; der Schwanz ist gestutzt, weil der Dung des Kamels in einem Haufen beieinander liegt, während ein Kamel normalerwei­se den Dung mit dem Schwanz zu verteilen pflegt; endlich ist es wild oder entlaufen, weil es das Gras unregelmäßig ab­geweidet hat, mit dem miss­­trau­ischen und vorsichtigen Charakter eines Tieres, das andauernd wachsam sein muss.

Voltaire lässt seine Helden in Zadig (1749) ein ähnliches Kunststück vollführen; er be­schreibt einen Hund und ein Pferd, Tiere, die er ebenfalls niemals gese­hen hat.

Weitere Beispiele für eine analytische Ableitung finden sich in einigen Episo­den von Alexandre Dumas’ Les Trois Mousquetaires — Die drei Musketiere (1844). Auch James Fenimore Coopers Held in Lederstrumpf (1826), der Waldläufer Natty Bumppo, kann die Trunkenheit eines In­dianers aus einem Mokassin-Abdruck herleiten:

spaceholder blue  Your drinking Indian always leans to walk with a wider toe than a natu­ral sa­vage.

Doch eine jede dieser Deduktionen ist nur Episode, Teil­stück aus dem gesam­ten Hand­lungs­ab­lauf, in dem diese Be­gebenheiten meist zur Unterstrei­chung der hohen geisti­gen Fähigkeiten des betreffende Abenteurers dient, der ja neben seinen überragenden körperlichen Eigen­schaften auch seinen Ver­stand benutzen können muss.

Dem wachsenden Interesse an Verbrechen trug François Gayot de Pitaval mit seinen lebendigen Schilderungen von Untaten im Frankreich zu Beginn des achtzehnten Jahr­hunderts Rechnung. Ein Vorwort zur deutschen Über­setzung seiner Causes célèbres et intéressantes schrieb Friedrich Schiller im Jahre 1792. Die in dieser Abhand­lung von zwan­­zig Bänden geschilderten Verbrechen sind brutal und bestia­lisch. Fast ohne Aus­nahme handelt es sich um Mord.

Pi­taval legt den Schwerpunkt in seinen Berichten noch völlig auf die Umstände und die Ausfüh­rung der Untaten, sie schlugen den damaligen Leser mehr in Bann als die Auf­klä­rung der Verbrechen, die zumeist von einer abstrak­ten Institu­tion übernommen wird; eine eigenständig handelnde Person be­schäftigt sich im Großteil der Fälle nicht damit.

Was man jedoch überall gleichermaßen finden kann, ist das „detegere“ (dete­gere, lat.: abdecken, aufdecken, enthüll­en), also die Aufklärung eines anschei­nend un­durch­schau­ba­r­en und un­er­klär­li­chen Vor­ganges. Die Helden dieser Werke sind im ur­sprüng­li­chen Sinne des la­tei­ni­­schen Grund­wortes „Detektive“, zu einer Zeit jedoch, als man dieses Wort noch nicht kannte und sie wahrschein­lich auch nicht als sol­che bezeichnet hätte, da die Deduktion oder Induktion nur ein Nebenzweig der Haupthandlung war. Denn in einer Welt, die erst am Anfang unseres heu­tigen Staatswesens stand, in der jeder allein auf sich selbst angewiesen war und in der die Regel galt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, war jeder­mann sein eigener Ge­setzgeber, jeder seine eigene Exekuti­ve und Ju­risdiktion.

Erst als die Verhältnisse im Laufe der Zeit eine gewisse Ordnung an­nahmen und nicht mehr das Recht des Stärke­ren galt, als ein Staatsapparat die drei Gewalten dem ein­zelnen abgenommen hatte und alle Bürger oder bestimmt­e Klassen gleiche Rechte be­saßen, konnte eine Person oder Institution auftreten, die die Rechte der Bürger zu verteidigen suchte.

Der Detektiv konnte in der Fiktion erst dann auftreten, nachdem es ihn in der Reali­tät bereits gab.

Derartige „Detektiv“-Einrichtungen wurden nach der Un­ab­­hän­gig­keits­er­klä­rung in den Vereinigten Staaten gegrün­det — dennoch stand deren Wilder Westen noch lange in kras­­sem Gegensatz zu dem bei weitem ruhigeren Land an der Ostküs­te. Auch in der Alten Welt machte man derarti­ge An­strengungen.

Bereits in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war in der englischen Haupt­stadt von Henry Fielding, dem Verfass­er von Tom Jones, die Bow Street Police ins Leben gerufen worden, die in ihren roten Westen und mit ihren Schlagstö­cken als Patrouille zu Fuß im Stadtkern von London für Ruhe und Ordnung zu­ständig war. Sie wurde 1829 von Sir Robert Peel in die gerade gegründete Me­tropolitan Police — nach dem Gebäude, in dem sie unter­gebracht war, auch Scotland Yard genannt — eingeglie­dert.

Das bedeutendste Stimulans für die Entwicklung der De­tektivliteratur und für die Entstehung des Romandetektivs war jedoch die Schaffung der Nationalen Sicherheitsbri­gade (Sûreté Nationale) durch Napoleon und deren Schil­derung durch Francois Eugène Vidocq, ihren ersten Lei­ter, in des­sen Mémoires im Jahre 1828.

Vidocq — der seine Lebenserinnerungen von einem profess­ionellen Schreiber nie­der­le­gen ließ — betätigte sich in jun­gen Jahren als Dieb, Schmuggler, Hoch­stapler und Zu­häl­ter. Im Jahre 1809 wurde er Polizeispion und zwei Jahre spä­ter Chef der Si­cher­heits­bri­ga­de, zunächst mit ei­nem Untergebe­nen, dann mit zweien, später mit einigen Dutzend, die sich meistens aus kriminellen Kreisen re­krutierten. Als ehe­ma­li­­ger Häft­ling und aus­ge­bil­deter Ga­nove kannte er alle Tricks und Schliche, deren sich die Unter­welt zu dieser Zeit be­diente.

So war es für ihn nicht schwer, in Paris das Verbre­cherunwesen von der Wurzel her zu bekämpfen. Er erkannte als einer der ersten, daß die Aufklärungsarbeit eines Polizei­agenten, die allein auf vagen Verdachtsmomenten und De­nunziationen beruht, zur Eindämmung des Verbrechens nicht von großem Nut­zen ist:

spaceholder red  Eine repressive Polizei, die nie präventiv arbei­tet, ist ein Irrtum.

Was er in der Theorie vertrat, führte er in der Praxis aus. In seinen Memoiren beschreibt er einige seiner kriminalist­ischen Ermittlungsarbeiten:

spaceholder red  Im Jahre 1810 lenkten Diebstähle ganz neuer Art und von un­be­greif­li­cher Keck­heit die Aufmerksamkeit der Polizei auf eine neue Verbrecherbande. Die Diebe machten sich nur an reiche Häuser heran, und alle Indizien sprachen dafür, dass die Kerle die Räumlichkeiten genau kannten.

 Alle mei­ne Bemühungen, diese geschickten Diebe abzu­fangen, wa­ren erfolg­los ge­blie­ben. Aber da wurde in der Rue Saint-Claude ein Diebstahl be­gangen.

 Am Tatort war ein Hafersäckchen vergessen worden, wie sie die Drosch­kenkutscher zu haben pflegen. Das ließ ver­muten, daß die Diebe entwe­der Droschkenkutscher waren oder daß eine Droschke bei der Ausfüh­rung der Tat benutzt wurde.

 Henry (der Sekretär des Präfekten) beauftragte mich, über die Kutscher Er­kun­di­gun­gen ein­zu­ziehen, und es ge­lang mir auch festzustellen, daß das Hafersäckchen einem gewissen Husson von der Droschke Nr. 712 gehörte. Husson wurde verhaftet, und durch ihn kam man auf die Spur zwei­er Brüder Delzève, von denen der ältere auch bald dingfest gemacht werden konnte … nur Delzève junior konnte nicht ein­ge­fan­gen werden.

 Am 31. De­zember 1812 sagte Henry zu mir:

 „Ich glaube, wenn wir’s richtig anstellen, kriegen wir auch noch Delzève. Morgen ist Neujahr; er wird gewiß einen Besuch bei der Wäscherin ma­chen, die ihm und sei­nem Bruder oft Zuflucht gewährt hat. Ich habe das Ge­fühl, daß er bestimmt hin­kom­men wird, heute abend, in der Nacht oder morgen früh”.

 Ich war ganz Henrys Ansicht. Er gab mir drei Inspek­toren mit, und wir begaben uns um sieben Uhr abends in die Nähe der Wohnung der Wä­scherin.

 … endlich öffnet sich die Tür des betreffende Hauses.

 Ich wußte, daß Delzèves Freunde sich durch einen verab­redeten Pfiff zu erkennen ga­ben; dieser Pfiff nach Art der Drosch­kenkutscher war mir bekannt.

 Ich ahme ihn nach, und beim zweiten Male höre ich leise eine Stimme:

 „Wer ruft?“

 „Chaffeur (der Kutscher, bei dem Delzève das Fahren gelernt hatte) ruft Krebs!“

 „Du bist es?“ ruft dieselbe Stimme (Es war Delzève!).

 „Jawohl, ich brauche dich, komm herunter!“

 „Ich komme, warte eine Augenblick.“

 … um Delzève zu täuschen, mache ich die Ausgangstür auf und lasse sie mit Ge­räusch wieder zufallen, ohne hinausz­ugehen. Ich verstecke mich unter einer Trep­pe im Hof. Bald kommt Delzève herunter: Ich sehe ihn. Ich gehe ihm nach, packe ihn am Kragen und erkläre ihn als meinen Ge­fangenen.

Mögen diese Geschehnisse auch vom Ghostwriter ausge­sponnen worden sein, sie sind in ihrer Substanz doch Tatsa­chenberichte und keine Fiktion. Doch mit Vidocq er­schien der erste professionelle Detektiv in der Literatur, der überall in der Welt bekannt wurde.

In einer anderen Literaturgattung, in den Schauerromanen oder Horrorgeschich­ten (auf englisch Go­thic oder Gothic Horror Novels), wa­ren auch schon Gestalten aufgetreten, die Verbrechen aufdeckten, so zum Beispiel das Fräulein von Scuderi in der gleichnamigen Novelle von E.T.A. Hoffmann.

In Things as they are, or the Adventures of Caleb Williams schilderte Wil­liam God­win die Aufklärung eines schrecklichen Verbre­chens, dessen ein Unschul­diger angeklagt war. Die Er­zählung war brilli­ant, so daß das Buch zur damali­gen Zeit ein Bestseller wur­de.

Allen diesen dämonischen Schauerromanen fehlte allerdings die dem De­tektivroman ei­gene Konstruktion, die vom Detektiv, von der Deduktion und vom Verbrechen ausgeht und nur dar­auf ihr Augenmerk richtet. Die Schriftsteller der späten Jah­re der Aufklärung legten ihr Gewicht jedoch mehr auf bizarre psychologische Momen­te und Motive.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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