M. Hercule Poirot, that ingenious Belgian
who talks in a literal translation of school-boy French.
Monsieur Hercule Poirot, der geniale Belgier,
der französisch wie in einer wörtlichen Übersetzung eines Schuljungen spricht.
Raymond Chandler. The Simple Art of Murder. 1950.
s ist auffällig, daß es nur sehr wenige weibliche Detektive in der Literatur gibt, obwohl Frauen als Autoren solcher Erzählungen oftmals große Erfolge haben erzielen können. Anna Katherine Green, die den Begriff des Detektivromans schuf, erdachte zwar Amalia Butterworth, die erste weibliche Detektivin, und Violet Strange, und Agatha Christie schuf Miss Marple, doch hatten beide keinen durchschlagenden Publikumserfolg. Das mag damit zu erklären sein, daß die Frau zur Zeit von Anna Katherine Green (1846-1935) und auch noch weit ins 20. Jahrhundert hinein, in der Agatha Christies (1890-1976) bekannteste Werke entstanden, dem Mann noch nicht so weit gesellschaftlich gleichgestellt war, wie sie es heute ist.
Auf der anderen Seite waren die Detektive dieser Zeit meistens weder als Mann noch als Frau erkennbar; sie stellten lediglich eine personifizierte analytische Kraft dar, die man in eine menschliche Schale gepresst hatte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand man endlich eine als Frau erkennbare Detektivin, die — sexuell attraktive — weibliche Antwort auf James Bond: Modesty Blaise von Peter O’Donnell, die jedoch nur in einer Welt, die sich von den alten Konventionen gelöst hat, geschaffen werden und überleben konnte. Die Qualität dieser Romane steht auf oder unter der Stufe der James-Bond-Geschichten.
In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die als das „Goldene Zeitalter der Detektivliteratur“ bezeichnet wurde, spielen Frauen in Detektivromanen höchstens die Rolle eines Opfer oder die des Mörders.
So stoßen wir in A.E.W. Masons (1865-1948) Büchern At the Villa Rose — Die Tote in der Villa Rose und The House of the Arrow — Das Geheimnis der Sänfte zwar auch auf mitspielende Frauen, der Detektiv aber ist ein Mann, Monsieur Hanaud von der Pariser Sicherheitsbrigade.
Er tritt die Nachfolge von Lecoq an, der der letzte Romandetektiv gewesen war, der der Sûreté angehörte. Nur wurde Hanaud im Gegensatz zu Lecoq von einem Engländer ersonnen; dies macht sich im Stil, im Aufbau der Bücher und in der Arbeitsweise Hanauds bemerkbar. Aus diesem Grunde kann man ihn nicht mit seinen Vorgängern bei der Sicherheitsbrigade vergleichen, sondern man muß ihn in Verbindung mit Holmes’ Nachfolgern und Philip Trent sehen und beurteilen.
Hanaud hat niemals eine solche Berühmheit erlangt wie seine Zeitgenossen Hercule Poirot von Agatha Christie oder Lord Peter Wimsey von Dorothy Sayers, vielleicht weil er nur in zwei Romanen die Hauptrolle spielte, während die anderen viel häufiger auftraten. Dennoch wollen wir an dieser Stelle kurz auf ihn eingehen, denn er ist das Bindeglied zwischen Trent und den Detektiven der Zwischenkriegszeit, deren Attribute denen Hanauds meist ähneln.
Hanaud war ein Mann in mittleren Jahren, mit dichtem, dunklem Haar, rundem Gesicht, glattrasierter Oberlippe und einem Paar auffallend heller Augen unter eher schweren Lidern. Er ist kein geistiger Supermann, aber allen Mitspielern geistig überlegen. Auch er kann irren, er ist schließlich nur ein Mensch. Auffallend an ihm ist, daß er seine geistige Überlegenheit nicht derart ausspielt wie andere Detektive vor ihm. Das Verhältnis zwischen dieser verstandesmäßigen Überlegenheit und den gelegentlichen Irrtümern, die ihm unterlaufen, machen ihn sympathisch. Denn er verfällt — genau wie Philip Trent — weder in das Extrem eines allwissenden Übermenschen, noch in das eines Trottels, der sein Ziel lediglich durch bloße Zufälle erreicht.
Hanaud zur Seite stehen meistens nicht nur eine Person, sondern zwei. „Watson“ ist in einem Buch Hanauds Freund, im anderen der Vertreter eines Londoner Anwaltsbüro, der die Anzeige stellt; beide finden im Laufe der Ermittlungen das Mädchen ihrer Träume, das ebenfalls bei der Aufdeckung hilft. So kommt man zu folgender Abstufung: Hanaud als Ermittlungsführender, sein Freund als „Watson“, das Mädchen an dritter Stelle zur weiteren Ergänzung.
Als Paar zusammen klären zum Beispiel auch Lord Peter Wimsey und seine Frau Harriet den Mord am Besitzer eines Cottage in Busman’s Honeymoon — Lord Peters Hochzeitsfahrt von Dorothy Sayers (1893-1958).
A.E.W. Mason hatte, wie gesagt, keinen großen Erfolg. Agatha Christie erwarb sich mit ihren Detektivgeschichten dafür umso mehr Ruhm. Sie verfasste innerhalb von fünfzig Jahren ungefähr siebzig Geschichten und Romane, die inzwischen höhere Auflagen erreicht haben als Shakespeares Werke.
Aufgrund einer Wette entstand ihr erster Roman The Mysterious Affair at Styles — Das fehlende Glied in der Kette (1921). In diesem Buch wird Hercule Poirot eingeführt, der nach Sherlock Holmes wohl berühmteste Detektiv in der Literatur.
Wenn man einmal nachrechnet, muss Poirot ein Methusalem sein; 1921 kommt er als pensionierter Polizeibeamter aus Belgien nach England, Mitte der siebziger Jahre gibt er seine Abschiedsvorstellung in Curtain: Poirot’s Last Case — Vorhang: Hercule Poirots letzter Fall. Der letzte Fall, mehr als fünfzig Jahre nach dem ersten, spielt wieder in Styles. Poirot müßte also weit über hundert Jahre alt geworden sein.
Geblieben ist er aber immer der Poirot, wie er in The Mysterious Affair at Styles geschildert wird:
Poirot war ein ungewöhnlich aussehender, kleiner Mann. Er war kaum größer als fünf Fuß, vier Inches (1,64 m), aber er trug dies mit großer Würde. Sein Kopf hatte exakt das Aussehen eines Eies, und er legte ihn immer ein bißchen schief. Sein Schnurrbart war immer steif und militärisch. Die Sauberkeit seiner Kleidung war fast unglaublich. Ich glaube, ein Staubkorn hätte ihm mehr Qualen bereitet als eine Schusswunde.
Poirot spricht als Belgier ein gutes Englisch, wenn auch verständlicherweise manchmal Fehler darin auftauchen; er behält diese Sprechweise ohne Ausnahme bei, auch wenn er sich mit einem Landsmann unterhält. Wie jeder Leser von Agatha Christies Romanen weiß, arbeitet Poirot mit seinen kleinen grauen Zellen.
„Wie gingen Sie ans Werk, wenn ich fragen darf?“
„Vor allem — mit Methode!“ sagte der Inspektor. „Was ich immer sage … Methode!“
„Ah!“ rief Poirot. „Das ist auch mein Losungswort, Methode, Ordnung und die kleinen grauen Zellen.“
„Die Zellen?“ wiederholte der Inspektor verständnislos.
„Die kleinen grauen Gehirnzellen,“ erklärte der Belgier.
„Oh, natürlich, die wenden wir alle an, denke ich.“
„In größerem oder geringerem Maße,“ murmelte Poirot. „Und es gibt auch Qualitätsunterschiede. Dann haben wir noch die Psychologie des Verbrechers. All das will gelernt sein.“
Mit diesen seinen Hilfsmitteln klärt Poirot jedes Verbrechen auf. Seine Logik, die er dabei anwendet, ist jedoch ebenso angreifbar wie die von Sherlock Holmes. Den Irrtum kennt Poirot ebenfalls nicht, er irrt niemals; dagegen irrt die Polizei meistens — wieder als Kontrastmittel. Betrachtet man dazu noch Poirots herausgestellte Eigenheiten, wie seinen gepflegten, spitzen Schnurrbart und seine Eitelkeit, so muß man leider feststellen, daß all dies Rückschritte sind im Vergleich zu den Reformisten Trent und — wenn auch mit Einschränkungen — Monsieur Hanaud. Auf der andere Seite bringt Hercule Poirot aber auch Neues.
Er übernahm einige seiner Kniffe vom Chevalier Dupin. Nach seiner Meinung läßt sich ein Fall umso leichter lösen, je verworrener er auf den ersten Blick erscheint. Am Ende soll die einzig richtige Möglichkeit zurückbleiben, wenn man alle anderen, unmöglichen ausgeschlossen hat.
Auch ein zweiter Punkt scheint von Dupin übernommen zu sein. Nicht so ausgeprägt wie bei Chestertons Father Brown, aber immerhin bemerkbar und von ihm selbst des öfteren angesprochen, sucht sich Poirot in die psychologischen Eigenheiten des Täters hineinzuversetzen. Diese Methode rangiert bei ihm aber nur an zweiter Stelle. An der Spitze findet sich immer noch das Zusammenzählen von Indizien, also eine Art Puzzlespiel oder Kreuzworträtsel. Will der Leser mitdenken oder sogar vor Poirots Aufdeckung am Schluß der Geschichte am Ziel sein und den Täter herausgefunden haben, so muß er äußerst sorgfältig und langsam lesen, um nicht einen der kleinen Hinweise auf den Verbrecher zu überlesen. Wer aber fünf bis zehn Bände mit Kriminalgeschichten Agatha Christies gelesen hat, kann bei weiteren Büchern recht bald sagen, wer der Mörder ist. Poirots Hilfe wird kaum noch benötigt, denn es ist fast ohne Ausnahme die unwahrscheinlichste Person der Mörder.
In einem der frühen Romane aus den zwanziger Jahren, The Murder of Roger Ackroyd — Alibi (1926), schockierte Agatha Christie mit diesem Verfahren ganz England, so daß einige Mitglieder des Detection Club sogar mit dem Gedanken spielten, sie aus dieser Vereinigung auszuschließen. Der Roman ist wie der erste in der Ich-Form geschrieben — er läuft anfangs vollkommen normal ab, nur stellt sich am Ende heraus, daß der Erzähler, der Arzt Dr. Sheppard, der als „Watson“ mitarbeitete, der Mörder von Roger Ackroyd ist; er wird schließlich von Poirot überführt. Der Leser hatte in diesem Buch keine Chance, den Mörder aufgrund der gegebenen Fakten zu erkennen.
Doch wie allen Romanen, in denen er mitspielt, läßt Poirot auch hier dem Verbrecher die Möglichkeit offen, selbst mit sich ins Reine zu kommen.
„Ihrer Schwester zuliebe will ich Ihnen jedoch Gelegenheit zu einem anderen Ausweg geben. Ich denke zum Beispiel an eine Überdosis von Schlafmittel.“
Hier offenbart sich, daß Hercule Poirot mehr als nur Detektiv ist, er ist Detektiv und Richter zugleich. Sein Rechtsempfinden stimmt immer mit dem des Lesers überein, wenn auch nicht immer mit der üblichen Rechtsprechung. Mit einer Ausnahme verurteilt er einen Mörder zum Tode. In Murder on the Orient Express — Die Frau im Kimomo (1934) schließt Poirot jedoch mit den Worten ab:
„Très bien, … dann habe ich die Ehre, mich von dem Fall zurückzuziehen.“
Der Ermordete, Mr. Ratchett, wurde offensichtlich aus Motiven getötet, die sittlich gut erscheinen. Zudem zeichnet nicht ein Einzelner für diesen Mord verantwortlich, sondern eine größere Gruppe von Personen, nämlich alle diejenigen, die sich zusammen mit dem Opfer in einem Schlafwagen des Orientexpress aufhielten.
Trotzdem, für einen Engländer ist Mord normalerweise eine Tat, der gesühnt werden muß. In einem englischen Zug hätte es sicherlich Konsequenzen gegeben. Im Orientexpress gibt es keine. In Zusammenarbeit mit dem Direktor der Compagnie des Wagons-Lits versucht Poirot die Angelegenheit zu vertuschen. So bleiben die Mörder ungeschoren, dem Gerechtigkeitsgefühl ist Genüge geleistet.
Der Amerikaner Raymond Chandler, auf den wir später noch genauer eingehen werden, beschäftigt sich in seinem Essay The Simple Art of Murder unter anderem auch mit Poirots Verhalten auf dem Orientexpress. Er schreibt (Übersetzung einer deutschen Taschenbuchausgabe):
Und nun noch ein Mord von Agatha Christie, in dem M. Poirot mitwirkt, der einfallsreiche Belgier, der ein Französisch spricht, das das Niveau der wörtlichen Übersetzung eines Quartaners hat, wobei er pflichtschuldigst mit seinen „kleinen grauen Zellen“ manövriert. M. Poirot entscheidet, daß niemand in einem bestimmten Schlafwagen den Mord allein begangen haben könne, und kommt deshalb zu dem Schluß, daß alle zusammen daran beteiligt waren, und teilt den Prozess in eine Reihe einfacher Handlungen auf wie die Montage eines Schneebesens für die Küche. Das ist die Sorte, vor der selbst der schärfste Verstand kapituliert. Nur ein Halbidiot könnte auf diesen Einfall kommen.
Von den einen hochgejubelt, von den anderen verdammt — das ist das Schicksal aller Helden, auch der Helden in der Kriminalliteratur. Ob man Poirot als Gestalt loben oder wegen der gelegentlichen Undurchdachtheit seiner Handlungen tadeln soll, bleibt dem einzelnen Leser überlassen.
Wer unter den Morden, die Poirot aufzuklären hat, blutrünstige Verbrechen suchen sollte, wird enttäuscht werden. Bei Agatha Christie spritzt kein Blut, sondern die Morde sind kultiviert und sauber, den Grundregeln der Sittlichkeit entsprechend, an die sich die englische Gesellschaft hielt. Der Mörder — so Father Ronald A. Knox — darf weder einer unteren Schicht entstammen noch Mitglied des hohen Adels oder gar des britischen Königshauses sein.
Mit Recht schrieben die französischen Autoren Pierre Boileau (1906-1989) und Thomas Narcejac (1908-1998), die in den fünfziger und sechziger Jahren ein französisches Subgenre des Kriminalromans mit Schwerpunkt auf lokalen Schauplätzen und psychologischer Spannung schufen:
Agatha Christie hat er verstanden, eine biedere Gesellschaft zu ergötzen, Leben in den englischen Sonntag zu bringen. In Frankreich ziert sie noch heute Pfarrbüchereien, erfreut sie alte Damen, die mit der Zeit gehen wollen, ohne sich doch gemein zu machen.
Die Gesprächigkeit Poirots hebt sich deutlich von der Schweigsamkeit der Engländer ab. Er bringt Leben und Witz in den englischen Detektivroman, der jedoch — wie man es bei Edgar Wallace ebenfalls zu beobachten vermag — bei der Übersetzung ins Deutsche verloren gehen kann.
Edgar Wallace (1875-1932) war ein weiterer Massenproduzent von außerordentlich populären Kriminalromanen und Detektivgeschichten. In den phantasievollen Kurzgeschichten mit dem älteren, zerstreuten Junggesellen J. G. Reeder (The Mind of Mr. J.G. Reeder — Der sechste Sinn des Mr. Reeder; 1925), der als Ermittler für die Staatsanwaltschaft in London arbeitet, zeichnet er am besten seine Art des Detektivs.
Mr. Reeder smiled sadly.
“The criminal mind is a peculiar thing.“ he said with a sigh. “It harbors illusions and fairy stories. Fortunately, I understand that mind. As I have often said — “
Mr. Reeder lächelte traurig.
„Der kriminelle Verstand ist etwas Eigenartiges“, sagte er seufzend. „Er birgt Illusionen und Märchen. Zum Glück verstehe ich diesen Geist. Wie ich oft gesagt habe — “
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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Ein Essay zum Eigengebrauch. 121 Seiten.
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