Things were easier for the old novelists who saw people all of a piece.
Speaking generally, their heroes were good through and through, their villains wholly bad.
Für die alten Romanciers, die die Menschen in einem Stück sahen, war es einfacher.
Üblicherweise waren ihre Helden durch und durch gut, ihre Schurken vollkommen böse.
W. Somerset Maugham. A Writer's Notebook. 1949.
n der Zeit um die Jahrhundertwende blieb der Detektivroman fast ausschließlich auf den englischen Raum beschränkt. Im deutschsprachigen Gebiet Mitteleuropas findet sich bis heute kaum ein Romanschriftsteller, dessen Detektiv mehr als nur mittelmäßig zu nennen oder über die Grenzen des Landes bekannt geworden ist.
In Frankreich ist die Lage nur wenig anders. Nach Gaboriaus Monsieur Lecoq verzeichnet der Gentleman-Einbrecher und spätere Detektiv Arsène Lupin zwar gewisse Erfolge, doch bis zum Kommissar Maigret von Georges Simenon folgt hier kein überragender Detektiv mehr, während es im England des Viktorianischen Zeitalters und der darauf folgenden Epoche geradezu eine Schwemme von Detektiven in der Belletristik gibt.
London wird zu ihrem Mekka. Leider sind sie oft nur billige Imitationen von Sherlock Holmes, mit mehr oder weniger herausgestellten Eigenheiten. Man entdeckt hier einen blinden Detektiv, Max Carrados, den Polizeiarzt Eric Vandeleur, den Kriminalistenberater Martin Hewitt, den namenlosen Logiker, der als der alte Mann in der Ecke (The Old Man in the Corner) bekannt wurde, und viele andere mehr. Als einzige sei an dieser Stelle eine Gestalt herausgegriffen, die die weitere Entwicklung verständlich macht.
1907 publizierte der nach einem schweren Schwarzfieberanfall (Leishmaniose) aus den Kolonien zurückgekehrte Arzt Richard Austin Freeman (1862-1943) sein Buch The Red Thumb Mark — Der rote Daumenabdruck. Gleich auf der ersten Seite erscheint sein Detektiv: Dr. John Thorndyke. Dieser und sein als Erzähler fungierender Freund Dr. Jervis sind eng mit Holmes und Dr. Watson verwandt. Doyle gestaltete Sherlock Holmes nach seinem alten Lehrer, Freeman tat es ebenso. Doch während Holmes‘ Beruf als Privatdetektiv meistens nicht wirklichkeitsnah ist — er lebt anscheinend in einer zeitlosen Märchenwelt — so ist Thorndyke als Facharzt und fachärztlicher Berater der Londoner Polizei realer, obwohl man ihn immer noch als fiktive Gestalt erkennen kann.
Noch ein weiterer Unterschied besteht: Sherlock Holmes war ermittelnder und agierender Detektiv zugleich. Er hatte ein — wenn auch oberflächliches — Studium der Medizin und der Naturwissenschaften hinter sich gebracht und besaß gewisse analytische Fähigkeiten, mit denen er den Hergang eines Verbrechens aufdecken konnte. Dazu kam bei ihm aber noch der eigene körperliche Einsatz bei der Überführung eines Täters. In vielen Fällen stellt er ihn selbst und übergibt ihn dann der Polizei.
Diese Zweiteilung der Aufgaben des Detektivs ändert sich innerhalb kurzer Zeit zugunsten der Wissenschaftlichkeit. Dies ist verständlich, denn die Naturwissenschaften brachten am Ende des neunzehnten und Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts laufend neue Erkenntnisse; man glaubte, mit ihrer Hilfe alles ohne Ausnahme erklären zu können. So kommt es, daß Thorndyke als ausgebildeter Arzt und Chemiker meist ein kleines Taschenlaboratorium mit sich herumträgt. Im Bezug auf die Wissenschaftlichkeit sticht er positiv von der Pseudowissenschaftlichkeit vieler seiner Kollegen ab.
Richard Austin Freemen legte großen Wert auf die Nachprüfbarkeit und Richtigkeit der Versuche seines Detektivs. Er ging so weit, daß er alle Experimente, die Thorndyke im Laufe seiner Ermittlungen durchführte, zu Hause selbst probte und sie erst dann niederschrieb, wenn er ihre Durchführbarkeit nachgewiesen hatte. Dann aber werden Thorndykes Versuche sehr ausführlich und genau geschildert. Die Faszination, die sie auf einen Alltagsmenschen ausüben, ist verständlich. Wenn es bei chemischen Übungen brodelt und zischt, wenn sich die Farben von Flüssigkeiten im Reagenzglas verändern, so erinnert dies immer an Hexerei und schwarze Magie.
Als nächstes verdünnte er den Brei mit destilliertem Wasser, so daß er schön flüssig wurde, und goß etwas davon in den Trichter. Der verdünnte Brei lief langsam durch die Röhre in den Kolben und mischte sich schnell mit dem brodelnden Inhalt. Fast sofort begann sich das Aussehen der Flamme zu verändern: Das Blaßviolett verwandelte sich in ein mattes Blau, über dem sich ein weißes Rauchwölkchen bildete.
Wieder hielt Thorndyke die Kachel vor die Düse, doch kaum hatte die Flamme die kalte Porzellanoberfläche berührt, als sich schon ein glitzernder, schwarzer Fleck darauf bildete.
„Das ist schon recht aufschlußreich,“ meinte Thorndyke und nahm den Stöpsel aus einer Flasche mit der Aufschrift Kalziumhypochlorid, „aber vorsichtshalber wollen wir auch noch den letzten Test machen.“ Er goß ein paar Tropfen der Hypochloridlösung auf die Kachel, und sofort verschwand der schwarze Fleck. „Jetzt können wir ihre Frage beantworten, Mr. Barton,“ sagte er zu unserem Klienten und korkte die Flasche wieder zu. „Die Probe, die Sie uns gebracht haben, enthält eindeutig Arsenik, und zwar in beträchtlicher Menge.“
Thorndyke ist Herrscher über die Natur. Nach wenigen Handgriffen an seinen Apparaturen weiß er, was für andere ein Rätsel war und wahrscheinlich immer ein Rätsel geblieben wäre, gäbe es nicht allwissende Wissenschaftler wie ihn. Er kennt im Zweifelsfall bereits den Mörder, wenn die Polizei noch im Dunkeln tappt.
Mit der Wandlung in Wissenschaft und Technik haben sich natürlich auch die Arten der Verbrechen geändert. Die Autoren der Detektivgeschichten müssen zusehends spitzfindiger werden, um ihre Leser zu halten und zu fesseln. Neben den berühmten Schlag mit dem blunt instrument (stumpfen Gegenstand) und die allbekannten Arsenik- und Strychninvergiftungen, die durch Zugabe des Giftes zum Essen hervorgerufen werden, treten jetzt vergiftete Zahnfüllungen und vergiftete Matratzen auf; man findet in der Unmenge der Kurzgeschichten sogar einen Mörder, der mit einem Bogen einen Dolch aus Eis durch das Fenster eines sonst absolut unzugänglichen Raumes schießt — die Mordwaffe ist später unauffindbar; es gibt den elektrischen Schlag durch die Telefonleitung, das Erfrieren in flüssiger Luft, aus einem Luftgewehr abgeschossene Injektionen.
Männern wie Thorndyke fällt die Rekonstruktion solcher Tatbestände nicht schwer. So werden die Erfolge des Detektivs allgemein bekannt:
Die Polizei hat sich in diesem schwierigen und wichtigen Fall klugerweise der Mithilfe Dr. John Thorndykes versichert, der mit seinem scharfen Verstand und seiner vielseitigen Erfahrung zweifellos das Geheimnis bald enthüllen wird.
Jedermann liest die Zeitung, in der diese Lobeshymne steht, und kennt somit Thorndyke und dessen Wert. Die staatliche Polizei schneidet wieder schlecht ab. Sie hat nur die Aufgabe, nach der Lösung eines Falles den Verbrecher dingfest zu machen — nachdem Thorndyke ihn bereits überführt hat. Bei Freemans Detektiv überschneiden sich diese beiden Aufgabenbereiche noch, Thorndyke hilft auch bei der Festnahme; bei der Denkmaschine van Dusen stehen sie schon parallel nebeneinander — van Dusen liefert der Polizei den Verbrecher — die Aufklärung, macht also nur die Denkarbeit, während das übrige der Polizei überlassen bleibt.
Nach unserem heutigen Geschmack sind solche Detektive unmöglich. Wir wünschen uns Menschen aus Fleisch und Blut und nicht „wissenschaftliche“ Rechenmaschinen im Stile eines van Dusen, denen man die Daten eines Verbrechens eingeben kann und die daraufhin nach einiger Zeit den Namen des Täters ausspucken, ohne daß der Leser vorher wissen kann, wer der Verbrecher sein könnte. Wesen wie Thorndyke und van Dusen besaßen eine gewisse Zeitlang einige Anziehungskraft. Aber sie verschwanden schnell von der Bildfläche, da dem Leser recht bald alle möglichen Spielarten der Verbrechen und ihrer Aufklärung bekannt waren.
Der US-Amerikaner S.S. van Dine (Pseudonym von Willard Huntington Wright), dessen Detektiv Philo Vance ebenfalls zu den allwissenden, subtilen und pedantischen Berufsgenossen seiner Art zählte, schränkte im Jahre 1928 in seinen Twenty rules for writing detective stories — Zwanzig Regeln des Detektivromans die Aufklärungsmöglichkeiten für einen Detektiv im Roman drastisch ein.
Er riet von mehreren Kniffen ab, die schon zu häufig angewandt worden waren und deswegen dem Leser allzu bekannt seien. Kein Autor solle etwa auf einen Zwillingsbruder oder auf einen Verwandten des Verdächtigen zurückgreifen, der diesem ähnlich sähe. Fernerhin sei zum Beispiel falsche Fingerabdrücke oder die Identifizierung eines Verdächtigen durch den Vergleich einer am Tatort gefundenen Kippe mit der Zigarettenmarke, die der Verdächtige raucht, abzulehnen.
Auch der britische Father Ronald A. Knox wies auf die dauernden Wiederholungen der Indizienbeweise bei der Aufklärung von Verbrechen durch Detektive hin. Er schrieb:
Wie die klassische Tragödie wird der Detektivroman eines Tages zugrunde gehen, wenn alle Themen und Permutationen abgehandelt worden sind und wenn der Leser bei dem geringsten Rückgriff, den der Autor ins Spiel zu bringen versucht, blasiert ausruft: Bekannt!
Bevor in den Vereinigten Staaten die Analytiker Ellery Queen des Autorengespannes Frederic Dannay (1905-1982) und Manfred B. Lee (1905-1971), die ihre Romane unter dem Pseudonym Ellery Queen verfassten, und Dr. Gideon Fell von John Dickson Carr (1906-1977) dem Höhepunkt ihrer Popularität in den zwanziger und dreißiger Jahren zustrebten, erkannte bereits vor dem ersten Weltkrieg der Engländer Edmund Clerihew Bentley (1875-1956):
Es sollte doch möglich sein, dachte ich, eine Detektivgeschichte zu schreiben, in der der Detektiv als menschliches Wesen zu erkennen ist.
Gesagt — getan. Nach zwei vergeblichen Versuchen erschien im Jahre 1913 sein Buch Trent’s Last Case — Trents letzter Fall. Dieser Roman machte Bentley berühmt, denn er leitete eine neue Periode im Stil des Detektivromans ein.
Der Journalist Philip Trent besitzt viele der Eigenschaften Sherlock Holmes’ oder des Chevalier Dupin nicht mehr. Er ist bei der Londoner Zeitung Sun beschäftigt — übrigens war sein geistiger Vater Bentley einer der bekanntesten Literaturkritiker der Zeit und kannte Trents Metier.
Ob seiner Einfälle und der Güte seiner journalistischen Leistungen ist der Freizeitmaler Trent in London und in der Umgebung der britischen Hauptstadt recht gut bekannt. So beauftragt ihn sein Chef, sich um den Mordfall Manderson zu bemühen. Dabei zeigt Trent kein ausgesprochenes Talent zum Meisterdetektiv, denn seine Lösung des Mordfalles erweist sich am Ende des Buches als falsch, und der Leser lernt den wahren Mörder nur dadurch kennen, daß er sich schließlich selbst zu erkennen gibt. Zum Schluß muß Trent zugestehen:
„Ich bin kuriert, Cupples; ich glaube, ich werde mich nicht mehr mit Kriminalfällen abgeben. Die Manderson-Affäre war Philip Trents letzter Fall. Der Stolz auf seine hervorragenden Leistungen ist dahin."
Einen solchen Zug kann man bei den Analytikern nicht finden, denn sie kennen eine derartige Unzulänglichkeit nicht. Als erster legt Trent auch menschliche Regungen an den Tag. Er beschließt, die Frau des Ermordeten zu heiraten.
Ihm fehlt auch die Arroganz und Selbstgefälligkeit seiner Vorgänger. Er bewegt sich niemals auf einer höheren Ebene als auf der, auf der auch seine Umgebung steht, und ist zu keinem Zeitpunkt so herablassend wie Sherlock Holmes. Bei seinen Initiativen spürt man seine Intelligenz und keine scheinbar unangreifbare Pseudologik. Hellseherei und Wölckens Primat der Vernunft verlieren allmählich ihren Einfluß, während in allem die Realitätsbezogenheit zunimmt. Dies sieht man auch im Verhältnis zur Polizei. Mr. Murch, der den Fall von Scotland Yard aus bearbeitet, ist nicht mehr der Clown Doyles; er steht mit Trent auf einer Stufe, so daß beide zusammenarbeiten und sich ergänzen, wobei Trent Murch gegenüber natürlich immer etwas voraus haben muß, denn er ist erstens Journalist und zweitens soll er der Held der Geschichte sein. Trotz all dieser positiven Punkte bleibt Trent lange Zeit ohne Nachfolger; die analytische Richtung beherrscht bis in die zwanziger Jahre die Szene.
Vollkommen aus der Reihe fällt einer der bekanntesten und beliebtesten Detektive dieser Zeit: Father Brown. Er läßt sich in keine der Detektivkategorien einordnen. Obwohl sein Schöpfer, der Engländer Gilbert Keith Chesterton (1874-1936), sehr gut mit E. C. Bentley bekannt war — beide waren lange Zeit Freunde, und Bentley trat nach Chestertons Tode den Vorsitz über den Detection Club an, in dem sich die besten Detektivgeschichtenschreiber der Zeit zusammenfanden — besitzt Father Brown dennoch kaum die Charakteristika, die Philip Trent so menschlich machen.
Der kleine, dickliche Priester in seiner schwarzen Soutane hat in den Schilderungen Chestertons immer etwas Rührendes und Unschuldiges an sich; außerdem wirken die Beschreibungen des Paters meistens komisch, aber nicht etwa in abwertender Weise. Bevor Chesterton sich der Schriftstellerei zuwandte, hatte er sich als Illustrator und Karikaturist seinen Lebensunterhalt verdient. So ist ein Einschlag von Humor bei der Beschreibung der Gestalt des Paters nicht zu übersehen:
Langsam vergrößerte sich der schwarze Punkt in der Ferne, ohne allerdings sein Aussehen merklich zu verändern; er blieb weiterhin rund und schwarz. Das schwarze Habit der Geistlichen war in dieser Gegend [in Spanien] durchaus nichts Ungewöhnliches; die lange, schwarze Soutane des Besuchers hatte jedoch eine gewisse bürgerliche Unauffälligkeit und zugleich doch etwas Flottes an sich, so daß ihr Träger auf den ersten Blick als ein Bewohner der Britischen Inseln zu erkennen war, so deutlich, als trüge er ein Plakat mit dem Namen seiner Heimat mit sich herum. In der Hand hatte er einen unförmigen Regenschirm mit eulenartigem Griff.
Was brachte Chesterton dazu, einen katholischen Geistlichen zur Hauptperson seiner Stories zu machen?
Nachdem er sich lange Jahre mit den Lehren der christlichen Kirchen beschäftigt hatte, trat Chesterton 1922 von der anglikanischen zur katholischen Kirche über. Schon lange vorher hatte er Father John O’Connor kennengelernt, der in einem von Arbeitern bewohnten Stadtviertel Londons als Seelsorger und Beichtvater wirkte und so einen Einblick in die Seelen dieser Menschen gewonnen hatte: ihm wurden nicht nur die Sünden oder gar Verbrechen gebeichtet, die die Leute in diesem Viertel begangen hatten, sondern auch deren Beweggründe. Chesterton, der sich bereits mit anderen Veröffentlichungen einen Namen gemacht hatte, wurde durch ihn angeregt, sowohl die katholische Heilslehre, als auch die Hintergründe zu einem Verbrechen in einer allgemein verständlichen und ansprechenden Art niederzulegen.
Dementsprechend stützt sich der Pater bei seinen Deduktionen nicht auf Indizien oder auf eine Vernunft, mit der Täter eingekreist werden soll, sondern er geht nach seiner eigenen Methode vor:
„Das Geheimnis besteht darin … nun sehen Sie, ich selbst habe all diese Leute umgebracht!“
„Nun ja, ich habe jedes Verbrechen genau überlegt und geplant,“ fuhr Father Brown fort. „Ich habe mir genau ausgedacht, wie so etwas wohl angepackt werden müßte, in welcher Verfassung ein Mensch sein müßte, der wirklich zu solch einer Tat fähig ist. Und wenn ich ganz sicher war, daß ich mich völlig in den Mörder hineingefühlt hatte, dann wußte ich natürlich auch, wer der Mörder gewesen war!“
„Ich habe diese Menschen natürlich nicht in Wirklichkeit ermordet … Letzlich war es ein Backstein oder irgendein Werkzeug, das ihnen den Tod gebracht hat. Nein, was ich sagen wollte, ist: Ich dachte unablässig nach, wodurch wohl ein Mensch zum Mörder werden könne, bis ich schließlich selbst in einer solchen Verfassung war, daß nur noch der letzte Schritt fehlte. Diese Methode ist mir einst von einem Freunde als eine Art religiöser Übung anempfohlen worden. Meines Wissens hat sie dieser Freund von Papst Leo XIII., der schon immer mein Vorbild gewesen ist.“
„ … und dann warte ich, bis ich weiß, daß ich in einem Mörder stecke. Ich denke seine Gedanken, kämpfe mit seinen Leidenschaften, bis ich mich ganz in seinen geduckt nach dem Opfer ausspähenden Haß hineinversetzt habe, bis ich die Welt mit seinen blutunterlaufenen, schielenden Augen sehe, dieselben Scheuklappen seines verwirrten Geistes trage und nichts mehr zu sehen vermag als den in meinen Augen brennenden kurzen Weg, der in einer Blutlache endet — bis ich wirklich ein Mörder bin.“
„Oh!“ rief Mr. Chance aus, und auf seinem Gesicht malte sich das Entsetzen, „und das nennen Sie eine religiöse Übung?“
„Allerdings,“ erwiderte Father Brown, „das nenne ich eine religiöse Übung.“
Hier schlägt Father Browns — beziehungsweise Chestertons — Ansicht von Religiosität nach Meinung der meisten Leser über die Stränge.
Auch die Gedankenverbindungen des Paters stimmen nicht. Er versetzt sich vollständig in die Lage und Stimmung des Mörders, der, um hieraus zu entrinnen, nur den Ausweg des Mordes sah. An den Pater jedoch geht diese Situation ohne Spuren vorbei; letzten Endes weiß er zwar, wer der Mörder ist, die Ausführung der Tat aber erfolgt bei ihm nicht, wenngleich er nach eigener Aussage dieselben Voraussetzungen mitbringt wie der Mörder — aus welchem Grunde?
Ob das, was Father Brown hier erklärt, in der Tat Chestertons persönliche Meinung war, kann man heute nicht mehr beurteilen. Bei der Aufklärung von Verbrechen erweist sich jedoch die Methode des Paters ohne Ausnahme unfehlbar. Mit Geschick und viel Intuition kommt er trotz offenbarer Unschuld jedem Übeltäter auf die Spur. Als „Watson“ dient ihm dabei sein Freund, der bekehrte Dieb Flambeau, der sich in Spanien zur Ruhe gesetzt hat; er steht Father Brown unterwürfig gegenüber und ist dem sich naiv gebärdenden, aber verschlagenen Pater nahezu hilflos ausgeliefert, wie die folgende Szene zeigt, die bei einem Besuch des Paters in Flambeaus Domizil in Spanien spielt.
„Es gibt zwei Gründe, warum Menschen dem Teufel entsagen, und der Unterschied, der diese beiden Beweggründe voneinander trennt, ist vielleicht das tiefste Geheimnis der Religion unserer Zeit: Die einen haben Schauder vor dem Teufel, weil er so weit weg ist, und die anderen, weil er so nahe ist. Und zwischen keiner Tugend und keinem Laster gibt es einen so tiefen Abgrund wie zwischen diesen beiden Tugenden.“
Niemand antwortete ihm, und er fuhr in demselben ernsten Ton fort. Seine Worte schienen niederzufallen wie geschmolzenes Blei.
„Man kann ein Verbrechen für verabscheuungswürdig halten, weil man selbst es niemals begehen würde und könnte. Ich aber halte es für entsetzlich, gerade weil ich in der Lage wäre, es zu begehen. Sie denken an ein Verbrechen so, wie man an einen Ausbruch des Vesuvs denkt: schrecklich, aber doch weit. Schrecklich wäre es aber …, wenn unerwartet ein Verbrecher unter uns erscheinen würde …“
Herr Doroc … stand langsam neben dem Ofen auf. Es war, als decke sein riesiger Schatten alles zu, als ließe er selbst die Finsternis des dunklen Nachthimmels noch dunkler werden.
„Es ist ein Verbrecher hier,“ sagte er langsam. „Ich bin ein Verbrecher. Ich bin Flambeau, und die Polizei beider Hemisphären fahndet noch immer nach mir.“
Man hört aus den Ausführungen des Paters genau heraus, daß Chesterton mehr wollte, als nur Kriminalfälle zu schildern. Er hatte eine Mission; er versuchte, die christliche Heilslehre mehr oder minder versteckt in den dunklen Reden des Paters dem Leser nahezubringen.
Eine Gestalt wie Father Brown taucht niemals wieder in der Kriminalliteratur auf, so daß der Pater als Außenseiter dasteht. Er besitzt weder die stark ausgeprägte verstandesmäßige Arbeitskraft der ersten Detektive noch die Wirklichkeitsnähe von Philip Trent und dessen Nachfolgern. Er stellt sich zwar teilweise als eine Mischform dieser beiden Gattungen dar, aber ist in größerem Maße nur ein Mittel, das von Chesterton angewandt wurde, zu dem Zweck, eine Weltanschauung zu vertreten und zu vermitteln.
Es ist interessant zu beobachten, daß eine Reihe der Autoren von Detektiv- und Spionageromanen zum Katholizismus konvertierten, bevor oder während sie literarisch tätig waren; dazu zählen neben Chesterton zum Beispiel Ronald Knox und Graham Greene. Selbst Agatha Christie machte klar, daß sie in diese Richtung tendiere.
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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Ein Essay zum Eigengebrauch. 121 Seiten.
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