I've just heard on the wireless that there's no point in writing books any more
because the electric brain can do it better.
Ich habe gerade im Radio gehört, daß es keinen Sinn mehr macht, Bücher zu schreiben,
weil Elektronengehirne es besser können.
Nancy Mitford, in einem Brief. 1967.
n Europa verändert sich die Gestalt des Romandetektivs ebenfalls, neue Typen erscheinen und bilden die zentralen Charaktere in einer Reihe von Büchern.
Einer der besten Romandetektive aus der Vorkriegszeit ist der Berner Wachtmeister Studer. Im deutschsprachigen Raum gab es kaum herausragende Detektivautoren, einer oder wahrscheinlich der beste war der Schweizer Friedrich Glauser (1896-1938) mit seinen fünf Studer-Romanen. Studer wurde berühmter als sein Schöpfer, das Zeichen des wahren Erfolgs eines Buchdetektivs. Glausers elegante Prosa und akute Beobachtung zeichnen die Atmosphäre einer Welt am Rande der Gesellschaft. Der Leser sieht deutlich die Details und fühlt die Stimmung.
Glauser wird oft mit Simenon verglichen, ist literarisch allerdings lebendiger. Er hatte einen starken Einfluß auf Friedrich Dürrenmatt und dessen Romane.
Das Eröffnungskapitel des ersten Romans, Wachtmeister Studer (auch: Schlumpf Erwin Mord; 1935), beginnt so:
Der Gefangenenwärter mit dem dreifachen Kinn und der roten Nase brummte etwas von „ewigem G'stürm“, — weil ihn Studer vom Mittagessen wegholte. Aber Studer war immerhin ein Fahnderwachtmeister von der Berner Kantonspolizei, und so konnte man ihn nicht ohne weiteres zum Teufel jagen.
Der Wärter Liechti stand also auf, füllte sein Wasserglas mit Rotwein, leerte es auf einen Zug, nahm einen Schlüsselbund und kam mit zum Häftling Schlumpf, den der Wachtmeister vor knapp einer Stunde eingeliefert hatte.
Gänge … Dunkle lange Gänge … Die Mauern waren dick. Das Schloß Thun schien für Ewigkeiten gebaut. Überall hockte noch die Kälte des Winters.
Es war schwer, sich vorzustellen, daß draußen ein warmer Maientag über dem See lag, daß in der Sonne Leute spazieren gingen, unbeschwert, daß andere in Booten auf dem Wasser schaukelten und sich die Haut braun brennen ließen.
Die Zellentüre ging auf. Studer blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Zwei waagrechte, zwei senkrechte Eisenstangen durchkreuzten das Fenster, das hoch oben lag. Der Dachfirst eines Hauses war zu sehen — mit alten, schwarzen Ziegeln — und über ihm wehte als blendend blaues Tuch der Himmel. Aber an der unteren Eisenstange hing einer! Der Ledergürtel war fest verknüpft und bildete einen Knoten. Dunkel hob sich ein schiefer Körper von der weißgekalkten Wand ab. Die Füße ruhten merkwürdig verdreht auf dem Bett. Und im Nacken des Erhängten glänzte die Gürtelschnalle, weil ein Sonnenstrahl sie von oben traf.
„Herrgott!“ sagte Studer, schoß vor, sprang aufs Bett — und der Wärter Liechti wunderte sich über die Beweglichkeit des älteren Mannes — packte den Körper mit dem rechten Arm, während die linke Hand den Knoten aufknüpfte.
Studer fluchte, weil er sich einen Nagel abgebrochen hatte. Dann stieg er vom Bett und legte den leblosen Körper sanft nieder.
„Wenn ihr nicht so verdammt rückständig wäret“, sagte Studer, „und wenigstens Drahtgitter vor den Fenstern anbringen würdet, dann könnten solche Sachen nicht passieren. — So! Aber jetzt spring, Liechti, und hol den Doktor!“
„Ja, ja!“ sagte der Wärter ängstlich und humpelte davon.
Zuerst machte der Fahnderwachtmeister künstliche Atmung. Es war wie ein Reflex. Etwas, das aus der Zeit stammte, da er einen Samariterkurs mitgemacht hatte. Und erst nach fünf Minuten fiel es Studer ein, das Ohr auf die Brust des Liegenden zu legen und zu lauschen, ob das Herz noch schlage. Ja, es schlug noch. Langsam. Es klang wie das Ticken einer Uhr, die man vergessen hat aufzuziehen; Studer pumpte weiter mit den Armen des Liegenden. Unter dem Kinn durch, von einem Ohr zum andern, lief ein roter Streifen.
„Aber Schlumpfli!“ sagte Studer leise. Er nahm sein Nastuch aus der Tasche, wischte sich zuerst selbst die Stirne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Gesicht des Burschen. Ein Bubengesicht: jung, zwei dicke Falten über der Nasenwurzel. Trotzig. Und sehr bleich.
Das war also der Schlumpf Erwin, den man heut morgen in einem Krachen des Oberaargaus verhaftet hatte. Schlumpf Erwin, angeklagt des Mordes an Witschi Wendelin, Kaufmann und Reisender in Gerzenstein.
Zufall, daß man zur rechten Zeit gekommen war! Vor einer Stunde etwa hatte man den Schlumpf ordnungsgemäß im Gefängnis eingeliefert, der Wärter mit dem dreifachen Kinn hatte unterschrieben — man konnte getrost den Zug nach Bern nehmen und die ganze Sache vergessen. Es war nicht die erste Verhaftung, die man vorgenommen hatte, es würde auch nicht die letzte sein. Warum hatte man das Bedürfnis verspürt, den Schlumpf Erwin noch einmal zu besuchen?
Lew Archer war Amerikaner, der sich von der „traditionellen Struktur der Gesellschaft“ — wie Ross Macdonald sagte — getrennt hatte. Glausers Romane sind wirklichkeitsbezogener als andere europäische dieser Periode und nehmen mit dem Hintergrund der Alten Welt soziale und psychologische Probleme auf und verarbeiten sie in der Handlung.
Glausers Studer erschien vor dem Zweiten Weltkrieg. Eine Woge neuer Europäer folgte als Kriminalromanautoren erst eine Generation später. Man kann sie nicht mit den Kaliforniern gleichsetzen, sie sind bei weitem zivilisierter und stammen von Maigret ab; sie leben und denken in den Dimensionen eines Mittel- oder Nordeuropäers; allerdings hilft auch die Gestalt von Philip Marlowe, die Grundlagen für den neuen kontinentaleuropäischen Stil zu legen.
Nicolas Freeling (1927-2003), ein auf dem Kontinent lebender Brite, schrieb Charakterstudien im Kleid von Detektivgeschichten.
Am bekanntesten wurden die Romane mit dem Amsterdamer Detektivinspektor Piet Van der Valk. Sein Vorbild im wirklichen Leben war ein lebenskluger Polizeibeamter, der Freeling einmal während eines Gefängnisaufenthaltes verhörte. Der Polizist faszinierte ihn, und er begann noch während der drei Wochen im Gefängnis, einen Roman mit einem solchen Detektiv zu schreiben: Love in Amsterdam — Liebe in Amsterdam (1962).
An sich wollte Freeling wohl eine Liebesgeschichte schreiben, aber Van der Valk verirrte sich in dieser Geschichte und Freelings Verleger, Victor Gollancz, entschied, daß es ein Thriller war.
Der Held und seine französische Frau Arlette kamen so gut beim Publikum an, daß eine Buchserie daraus erwuchs: Weitere Van der Valk-Romane folgten, so Gun Before Butter — Van der Valk und der Schmuggler (auch: Van der Valk und das Mädchen) (1963).
Nach ein paar Romanen ließ Freeling seinen Protagonisten sterben (Auprès de ma blonde (auch: A Long Silence — Van der Valk muss schweigen). Hier ein Auszug — erst die englische Fassung, dann eine deutsche Übertragung.
He was in the way to study a long silence.
So that he had no interest in the rough clash of the transmission and the squeal of the tires pulling away in haste. He was down on his face in the dead leaves. He knew that he was dying and was pleased that he knew, and could say the words he wished to say — very simple words.
And a few simple thoughts. He had never been afraid of dying, and least of all now. He had had a life, married a wife, raised children, dug ground and planted a tree, sailed a boat and skied down hill, eaten and drunk and made love. He was ready for what came next. He felt his life spilling out on the ground and turned his head a little. Bereitsein ist alles [Always be prepared]. He thought of Arlette [his wife] without disappointment and without pain.
It wasn’t a bad place at all to die. With a last flick of recognition for this world, he remembered Stendhal saying there was no disgrace in dying in the street, when not done on purpose. And he had …
Van der Valk began to study his long silence but was interrupted. He was dead.
Er war dabei, eine lange Stille zu studieren.
So hatte er kein Interesse an dem rauen Krachen des Getriebes und dem Quietschen der Reifen, die in Eile davonzogen. Er lag mit seinem Gesicht in den toten Blättern. Er wußte, daß er im Sterben lag und war froh, daß er es wußte und die Worte sagen konnte, die er sagen wollte — sehr einfache Worte.
Und ein paar einfache Gedanken. Er hatte nie Angst vor dem Sterben gehabt und am wenigsten jetzt. Er hatte ein Leben gehabt, eine Frau geheiratet, Kinder aufgezogen, im Boden gegraben und einen Baum gepflanzt, ein Boot gesegelt und Abfahrtslauf genossen, gegessen und getrunken und Liebe gemacht. Er war bereit für das, was als nächstes kam. Er fühlte, wie sein Leben auf den Boden sickerte und drehte den Kopf ein wenig. Bereitsein ist alles. Er dachte an Arlette [seine Frau] ohne Enttäuschung und ohne Schmerzen.
Es war kein schlechter Ort zum Sterben. Mit einem letzten Aufflammen der Anerkennung für diese Welt erinnerte er sich an Stendhal, der sagte, daß es keine Schande sei, auf der Straße zu sterben, wenn es nicht mit Absicht geschieht. Und er hatte …
Van der Valk begann sein langes Schweigen zu studieren, wurde aber unterbrochen. Er war tot.
Im Gegensatz zu Conan Doyle mit Sherlock Holmes widerstand Freeling der Versuchung und dem Druck von Verlegern und Lesern, seinen Helden wieder zum Leben zu erwecken. Zu diesem Zeitpunkt hatte Freeling bereits den nachdenklichen französischen Provinzinspektor Henri Castang ins Leben gerufen, der in einer Reihe von Romanen die Hauptrolle spielte.
Wie Inspektor Maigret neigt Van der Valk dazu, die Details eines Falles zu sezieren und zu analysieren, am besten bei einem guten Essen. Obwohl Van der Valk's Grübeleien seine eher überaktiven Mitarbeiter einengen, bringen sie unweigerlich überraschende Lösungen hervor.
In Criminal Conversation — Van der Valk und der tote Maler (1965) spielt ein reizbarer Van der Valk abwarten und Tee trinken mit einem in einem anonymen Brief des Mordes bezichtigten Neurologen. In einem langen Schlagabtausch führt er eine Art Psychoanalyse eines Verbrechens durch, ohne daß die beiden Widersacher Feinde sind oder Feinde werden: „Ich bin der einzige Freund, den er hat,“ sagt Van der Valk über den Tatverdächtigen.
In Nordeuropa nimmt Kommissar Beck mit seinen Kollegen von der Stockholmer Kriminalpolizei den Faden der neuen europäischen Polizei- oder Detektivromane auf. Geschaffen von dem schriftstellernden Paar Per Wahlöö (1926-1975) und Maj Sjöwall (1935-2020) wurde Martin Beck innerhalb weniger Jahre überall in Europa und Nordamerika bei den Lesern von Kriminalromanen bekannt.
Er gleicht mit seinen nicht idealisierten, allzu menschlichen Zügen in vielem Maigret, ist aber kein Kleinbürger. Er hat Magengeschwüre, führt eine schale Ehe und hat häufig nicht viel Freude an seinem oftmals langweiligen Beruf.
Er ist Bürokraten und Politikern ausgeliefert, aber wettert diese auf seine Weise ab. Die folgende Szene stammt aus Mannen som gick upp in rök — Der Mann, der sich in Luft auflöste (1966):
Der Mann, der die rechte Hand des Ministers war, war hochgewachsen und kantig und rothaarig. Mit wasserblauen Augen starrte er Martin Beck an, erhob sich schnell und geschäftig und eilte mit ausgestreckten Armen um den Schreibtisch herum.
„Ausgezeichnet“, sagte er. „Ausgezeichnet, daß Sie kommen konnten.“
Er schüttelte ihm begeistert die Hand. Martin Beck sagte nichts. Der Mann ließ sich wieder auf seinem Drehstuhl nieder, nahm die ausgegangene Pfeife und biß mit seinen großen gelben Pferdezähnen in den Stiel.
Dann lehnte er sich zurück, zündete ein Streichholz an, setzte die Pfeife in Brand und fixierte seinen Besucher kalt und abwägend durch den Pfeifenrauch.
„Am besten duzen wir uns gleich“, begann er. „Dann spricht es sich viel leichter. Ich heiße Martin.“
„Ich auch“, entgegnete Martin Beck düster. Um gleich darauf hinzuzufügen: „Das kompliziert vielleicht die Angelegenheit.“
Diese Bemerkung schien den Mann zu überraschen. Er warf einen scharfen Blick zu Martin Beck hinüber, um sich zu vergewissern, daß sich hier niemand über ihn lustig machte. Dann lachte er schallend.
„Ja, ja, natürlich. Sehr komisch. Hahaha.“
Er schwieg p1ötzlich und widmete sich dem Haustelefon. Drückte nervös auf die Knöpfe, während er murmelte: „Tatsächlich, wirklich furchtbar komisch.“ Aber seine Stimme verriet keine Spur von Lustigkeit.
„Bitte die Akte von Alf Matsson,“ rief er kurz darauf.
Eine Dame mittleren Alters kam mit einer Mappe herein und legte sie vor ihn auf den Tisch. Er würdigte sie keines Blickes. Als sie die Tür geschlossen hatte, richtete er seinen kalten, unpersönlichen Fischblick auf Martin Beck und schlug dabei den Schnellhefter auf; er enthielt nur ein einziges Blatt Papier, übersät mit hingeworfenen Bleistiftnotizen.
„Eine peinliche und höchst unangenehme Geschichte,“ meinte er.
Beck teilt die Handlung mit einer Gruppe von Kollegen, alle glaubwürdige und ehrenhafte Gestalten, die zusammenarbeiten, aber ausgeprägte Charaktere besitzen und sich gelegentlich aneinander reiben. Er bleibt aber der Protagonist.
Was Beck und seine Kollegen auf der einen Seite als auch die Übeltäter in den Romanen auf der anderen so überzeugend macht, ist die eingehende Beschreibung einer zerbrechlichen Menschlichkeit aller Charaktere und Becks Einfühlungsvermögen für Missetäter und Verbrecher jeder Art.
Jedes der zehn Bücher der Martin-Beck-Serie ist eine Gesellschaftskritik und ein Spiegel der sozialen Probleme im Schweden der sechziger und siebziger Jahre. Verbrechen werden nicht mehr als individuelle Taten beleuchtet, sondern von einer gesellschaftlichen Warte. Der weltberühmte schwedische Sozialismus wird vorgeführt und entlarvt, der Anschein einer verrotteten Demokratie und der Zynismus der schwedischen „Elite“ in Verwaltung, der Politik und der Wirtschaft aufgedeckt und lächerlich gemacht. Das Genre eines Polizei- oder Detektivromans eignet sich perfekt für eine derartige Darstellung.
Wie Hammett hatten beide schwedischen Autoren einen marxistischen, idealistischen Hintergrund. Sie wollten — wie Maj Sjöwall einmal sagte — Verbrechen beschreiben, die zwar nicht wahr seien, aber in einer gewissen Bedeutung Portraits der Krankheiten der Überflußgesellschaft seien.
Wie bei den Maigretromanen fühlt der Leser in den Büchern all der Autoren in dieser Gruppe eine Relevanz, Moral und Zeitlosigkeit, die gute Belletristik und Literatur im allgemeinen auszeichnet — wozu der meist einfache, schnelle, aber spannende Stil beiträgt.
Sjöwalls und Wahlöös Technik, traditionelle Detektiv- und Polizeiromane mit einem Fokus auf Wechselfälle des Lebens im schwedischen Sozialstaat zu vermischen, fand große Beachtung. Sie paßten in einen Buchmarkt, der Problemromane oder „psychologische“ Kriminalromane suchte, wobei man sich über diese Kategorisierungen leicht streiten kann.
Das Konzept wurde in den neunziger Jahren mit Henning Mankells (1948-2015) Detektivfigur Kurt Wallander fortgesetzt. Mankell erreicht mit Wallander allerdings nicht die schriftstellerische und tiefschürfende Qualität von Sjöwall und Wahlöö. Danach und parallel folgten massenproduzierte Detektivromane ähnlicher Art, meist skandinavische Meterware — was nicht ausschließt, daß gute und spannende Bücher darunter sind; aber das Strickmuster ist immer ähnlich.
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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Ein Essay zum Eigengebrauch. 121 Seiten.
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