But down these mean streets a man must go who is not himself mean,
who is neither tarnished nor afraid …
Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen,
der selbst nicht schäbig ist,der makellos und nicht furchtsam ist …
Raymond Chandler. The Simple Art of Murder. An Essay. 1950.
icht Gerechtigkeit und Moral beherrschen die Welt, sondern Ungesetzlichkeit, Ungerechtigkeit und Egoismus. Die Schilderungen einer heilen Welt, in der ein Übeltäter sofort aufgespürt und aus der Gesellschaft ausgestoßen wird, sind — wie in der englischen Detektivliteratur — bloße Ammenmärchen.
In The Simple Art of Murder — Mord ist keine Kunst (Atlantic Monthly, 1950) schrieb der Amerikaner Raymond Chandler (erst das englische Original, dann eine deutsche Übertragung):
The realist in murder writes of a world in which gangsters can rule nations and almost rule cities, in which hotels and apartment houses and celebrated restaurants are owned by men who made their money out of brothels, in which a screen star can be the fingerman for a mob, and the nice man down the hall is a boss of the numbers racket; a world where a judge with a cellar full of bootleg liquor can send a man to jail for having a pint in his pocket, where the mayor of your town may have condoned murder as an instrument of moneymaking, where no man can walk down a dark street in safety because law and order are things we talk about but refrain from practicing; a world where you may witness a hold-up in broad daylight and see who did it, but you will fade quickly back into the crowd rather than tell anyone, because the hold-up men may have friends with long guns, or the police may not like your testimony, and in any case the shyster for the defense will be allowed to abuse and vilify you in open court, before a jury of selected morons, without any but the most perfunctory interference from a political judge.
It is not a very fragrant world, but it is the world you live in, and certain writers with tough minds and a cool spirit of detachment can make very interesting and even amusing patterns out of it. It is not funny that a man should be killed, but it is sometimes funny that he should be killed for so little, and that his death should be the coin of what we call civilization.
Der Realist in Mordromanen schreibt von einer Welt, in der Gangster Nationen und fast Städte regieren können; in der Hotels und Apartmenthäuser und gefeierte Restaurants Männern gehören, die ihr Geld aus Bordellen gemacht haben; in der ein Filmstar der Hinweisgeber auf Verräter für einen Mob sein kann; und der nette Mann am Ende des Korridors der Boss einer illegalen Lotterie ist; eine Welt, in der ein Richter mit einem Keller voller schwarz gebranntem Schnaps einen Mann ins Gefängnis schicken kann, weil er eine Bierflasche in der Tasche hat; wo der Bürgermeister Ihrer Stadt den Mord als Instrument Geld zu verdienen geduldet hat; wo kein Mann in Sicherheit eine dunkle Straße hinuntergehen kann, weil Recht und Ordnung Dinge sind, über die wir reden, aber nicht praktizieren; eine Welt, in der Sie einen Banküberfall am hellichten Tag miterleben und sehen können, wer es getan hat, aber Sie schnell wieder in der Menge verschwinden, anstatt es irgendjemandem zu sagen, weil die Bankräuber vielleicht Freunde mit langen Flinten haben oder die Polizei Ihre Aussage nicht mag, und auf jeden Fall wird es dem Winkeladvokaten der Verteidigung erlaubt sein, Sie vor einem offenen Gericht zu beleidigen und zu verleumden, vor einer Jury aus ausgewählten Idioten, ohne irgendeine außer vielleicht einer sehr oberflächlichen Einmischung durch einen politisch motivierten Richter.
Es ist keine sehr wohlriechende Welt, aber es ist die Welt, in der Sie leben, und bestimmte Autoren mit hartem Verstand und kühlem geistigen Abstand können sehr interessante und sogar amüsante Romane aus diesen Mustern aufbauen. Es ist nicht lustig, daß ein Mann getötet wird, aber es ist manchmal lustig, daß er für so wenig getötet wird und daß sein Tod die Medaille dessen ist, was wir Zivilisation nennen.
In der Zeit der Prohibition, als die amerikanischen Städte von Gangsterbanden stellenweise beherrscht wurden, als fast jeder Politiker und Polizist käuflich war und nur wenige Männer auf der Seite der Gerechtigkeit und der Fairness standen und versuchten, sich zu behaupten und die staatlichen Vorschriften durchzusetzen, um sich und ihre Mitbürger zu schützen, entstand der neue Typ des Detektivs, der Mann, der mit seinem gesunden Menschenverstand seinem Empfinden für Gerechtigkeit Genüge leistete.
Chandler fährt fort, und dies wurde eines der bekanntesten Zitate über Detektive in der Literatur (erst das englische Original, dann eine deutsche Übertragung):
But down these mean streets a man must go who is not himself mean, who is neither tarnished nor afraid. The detective in this kind of story must be such a man. He is the hero, he is everything. He must be a complete man and a common man and yet an unusual man. He must be, to use a rather weathered phrase, a man of honor, by instinct, by inevitability, without thought of it, and certainly without saying it. He must be the best man in his world and a good enough man for any world. I do not care much about his private life; he is neither a eunuch nor a satyr; I think he might seduce a duchess and I am quite sure he would not spoil a virgin; if he is a man of honor in one thing, he is that in all things. He is a relatively poor man, or he would not be a detective at all. He is a common man, or he could not go among common people. He has a sense of character, or he would not know his job. He will take no man’s money dishonestly and no man’s insolence without a due and dispassionate revenge. He is a lonely man and his pride is that you will treat him as a proud man or be very sorry you ever saw him. He talks as the man of his age talks, that is, with rude wit, a lively sense of the grotesque, a disgust for sham, and a contempt for pettiness. The story is his adventure in search of a hidden truth, and it would be no adventure if it did not happen to a man fit for adventure. He has a range of awareness that startles you, but it belongs to him by right, because it belongs to the world he lives in.
If there were enough like him, I think the world would be a very safe place to live in, and yet not too dull to be worth living in.
Aber durch diese schäbigen Straßen muß ein Mann gehen, der selbst nicht schäbig ist, der makellos und nicht furchtsam ist. Der Detektiv in Geschichten dieser Art muß solch ein Mann sein. Er ist der Held, er ist alles. Er muß ein vollkommener Mann sein und ein normaler Mann, und er muß doch ein außergewöhnlicher Mann sein. Er muß, um eine recht abgegriffene Phrase zu gebrauchen, ein Mann von Ehre, ein Mann mit Instinkt, ein Mann des Unvermeidlichen sein, ohne daran zu denken und ganz gewiß, ohne darüber zu sprechen. Er muß der beste Mann in dieser Welt und ein guter Mann für jede Welt sein. Sein Privatleben ist mir egal; er ist weder ein Eunuch noch ein Satyr; ich glaube, er könnte eine Herzogin verführen, und ich bin mir ziemlich sicher, daß er eine Jungfrau nicht verderben würde; wenn er in einer Sache ein Ehrenmann ist, ist er das in allen Dingen. Er ist ein relativ armer Mann, sonst wäre er kein Detektiv. Er ist ein gewöhnlicher Mann, sonst könnte er nicht zwischen gewöhnlichen Leuten leben. Er hat Sinn für Charakter, oder er würde nicht wissen, was seine Aufgabe ist. Er wird von niemanden unehrenhaftes Geld annehmen und wird sich von niemandem beleidigen lassen, ohne sich angemessen und leidenschaftslos dafür zu rächen. Er ist ein einsamer Mann und sein Stolz ist, daß Sie ihn wie einen stolzen Mann behandeln werden oder daß es Ihnen sehr leid tut, ihn jemals gesehen zu haben. Er spricht, wie ein Mann seines Alters spricht, d.h. mit derbem Witz, einem lebhaften Sinn für das Groteske, einem Ekel vor Heuchelei und Verachtung von Engstirnigkeit. Die Geschichte ist sein Abenteuer auf der Suche nach einer verborgenen Wahrheit, und es wäre kein Abenteuer, wenn es nicht einem Mann passieren würde, der dafür tauglich ist. Er hat ein Bewußtseinsspektrum, das einen verblüfft, aber es gehört ihm zu Recht, weil es zu der Welt gehört, in der er lebt.
Ich denke, wenn es genug wie ihn gäbe, wäre die Welt ein sehr sicherer Ort zum Leben und doch nicht zu langweilig, um darin zu leben.
Hard-boiled werden diese Detektive genannt, hartgesotten. Sie kämpfen als einzelne gegen Banden, gegen eine korrupte Polizei, gegen Politiker, die nicht mehr Politiker sind, sondern Marionetten. Als Privatdetektive arbeiten sie für Klienten, die ihnen oftmals nicht einmal die Wahrheit sagen, sondern sie schamlos belügen, um einen Vorteil für sich selbst herauszuschlagen. Sie leben alle in Kalifornien.
Mit der Art der Detektive änderte sich ebenfalls die Gestalt des Detektivromans. Watson verschwindet. Lange Deduktionen gibt es ebenso wenig wie nichtendenwollende Monologe. Während der ursprüngliche Detektivroman sich gut zu einem Theaterstück verarbeiten ließ, eigneten sich die neuen action- und spannungsreichen Short Stories und Romane viel eher zur Verfilmung, und so erreichte der Kriminalfilm seine Blütezeit.
Drei Schriftsteller gelten als Vorreiter dieser Generation der Romandetektive.
Der erste von ihnen ist Dashiell Hammett (1884-1961), der als Vater der hard-boiled Detektive gilt, wie im Vorwort bereits angesprochen wurde.
Hammett hatte acht Jahre für die Detekivagentur Pinkerton & Co. gearbeitet, bis er Ende der zwanziger Jahre diesen Job von einem Tag zum anderen aufgab und zu schreiben begann. Er erschuf in The Maltese Falcon — Der Malteser Falke (1930) Sam (Samuel) Spade.
Samuel Spades Unterkiefer war lang und knochig. Sein Kinn sprang in scharfer V-Form unter dem sanfter geschwungene V seines Mundes vor. Wo sich die Nasenflügel nach rückwärts zogen, bildeten sie ein weiteres, ein kleineres V. Seine gelb-grauen Augen standen waagerecht. Die buschigen Brauen, die sich von der Doppelfalte über der Hakennase auswärts wölbten, nahmen noch ein mal das V-Motiv auf, und sein blaß-braunes Haar wuchs von den hohen, flachen Schläfen spitz in die Stirn. Auf eine eigentlich ganz nette Weise sah er aus wie ein blonder Teufel.
Er war über 1,80 m groß. Die steil abfallenden, gerundeten Schultern ließen seinen Körper beinahe kegelförmig erscheinen — von vorn gesehen nicht breiter als von der Seite, und an ihnen lag es auch, daß sein frischgebügeltes, graues Jackett nicht besonders gut saß.
Die übertriebene Eleganz früherer Detektive ist verlorengegangen. Geblieben ist ein Mann, der sich durchzusetzen versteht, notfalls mit Gewalt und auf ungesetzliche Weise.
Sam Spade ist ein Professional, er übernimmt jeden Job, der ihm angeboten wird, sofern er nicht gegen sein Gefühl von Gerechtigkeit verstößt. Er will natürlich dafür bezahlt werden, und seine Geldforderungen sind manchmal geradezu unverschämt. In The Maltese Falcon verlangt er von seiner Auftraggeberin, sie solle ihren gesamten Schmuck versetzen, um seine Arbeit zu bezahlen.
Im Vorwort zur Ausgabe 1934 schreibt Dashiell Hammett im Januar dieses Jahres:
Spade has no original. He is a dream man in the sense that he is what most of the private detectives I worked with would like to have been and in their cockier moments thought they approached. For your private detective does not — or did not ten years ago when he was my colleague — want to be an erudite solver of riddles in the Sherlock Holmes manner; he wants to be a hard and shifty fellow, able to take care of himself in any situation, able to get the best of anybody he comes in contact with, whether criminal, innocent by-stander or client.
Spade hat kein Urbild. Er ist ein Traummann in dem Sinne, daß er das ist, was die meisten Privatdetektive, mit denen ich gearbeitet habe, gerne gewesen wären und in ihren großspurigeren Momenten dachten, sie wären nahe dran. Denn Ihr Privatdetektiv will nicht — oder wollte nicht vor zehn Jahren, als er mein Kollege war — ein gelehrter Rätsellöser in Sherlock-Holmes-Manier sein; er will ein harter und verschlagener Kerl sein, der sich in jeder Situation um sich selbst kümmern kann, der in der Lage ist, das Beste aus jedem zu machen, mit dem er in Kontakt kommt, ob Krimineller, unschuldiger Zuschauer oder Klient.
Meist arbeitet Spade im Dunkeln, er tastet sich langsam von einem Detail zum nächsten vor und sammelt eine Menge von Punkten, Fakten und Ansichten, mit deren Hilfe er einen Verbrecher überführen kann — oder wenn der Täter, wie häufig, bereits von Anfang an bekannt ist, ihn aufspüren und stellen kann.
Wenn er aber im Laufe seiner Ermittlungen erfährt, daß sein Klient ihn betrogen hat und im Unrecht ist, geht er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen ihn vor. Seine unüberwindliche Pflichtauffassung verläßt Spade niemals. Sie geht so weit, daß er in The Maltese Falcon die Frau, die er wirklich liebt, der Polizei übergibt, weil sie einen Mord begangen hat.
Dashiell Hammet wollte in seinen fast berichtartigen Stories mehr als nur Verbrechen schildern. Es ist sehr interessant, dazu einmal den kurzen Lebensüberblick zu lesen, den Hammetts langjährige Gefährtin Lillian Hellman zur Einleitung des nach Hammetts Tode erschienenen Bandes The Big Knockover — Raubmord verfaßt hat. In ihm schreibt sie:
Ich finde es ziemlich unwichtig, daß ich nicht weiß, ob Hammett Mitglied der kommunistischen Partei war; er war jedenfalls ganz bestimmt ein Marxist. Aber er war ein sehr kritischer Marxist und häufig voller Verachtung für die Sowjetunion, aus der gleichen provinziellen Verachtung heraus, mit der viele Amerikaner Ausländern gegenüberstehen. Er äußerte sich oft witzig und beißend scharf über die amerikanische kommunistische Partei, aber schließlich verhielt er sich ihr gegenüber doch immer loyal. Bei einer Auseinandersetzung mit mir sagte er einmal, daß ihn am Kommunismus natürlich viel beunruhige und immer beunruhigt hätte und daß er seine Überzeugung ändern würde, sobald er etwas Besseres gefunden habe.
Diese Aussage mag den verblüffen, der in Sam Spade einen geldgeilen Schläger sieht, der Sam Spade als einen Privatdetektiv betrachtet, der einem Killer der Gangs nicht fern steht. Dashiell Hammett verkauft bestimmt keine „offen faschistische Ideologie“, wie man einmal in einer Buchbesprechung lesen konnte. Andererseits will er aber sicher auch keine kommunistische Ideologie an den Mann bringen, die in einen Detektivroman verpackt wurde.
Er verbindet seine Stories mit einer scharfen Kritik an den sozialen Zuständen. Sam Spade lebt in einer verkommenen Gesellschaft; eine Gesellschaft, der jegliche moralische Verantwortung abhanden gekommen ist. Sam Spade soll eine Mahnung an die Leser sein. Aus diesem Grunde besitzt er dieselben Eigenschaften wie seine Gegner. Die Omnipotenz eines Sherlock Holmes hat er abgelegt, wenngleich immer noch vorgegeben ist, daß ein Detektiv in unserem Zeitalter fähig ist, als Einzelgänger alles zu erkennen und auf alles einzuwirken. Dazu verläßt ihn niemals seine Pflichtauffassung, der Glauben an seine Verpflichtung dem Gesetz und Recht gegenüber.
Raymond Chandler (1888-1959) ist der zweite aus dieser Gruppe von Schriftstellern, dem Anerkennung gebührt. Nach eigenen Aussagen hatte er sich Hammett und dessen Detektive zum Vorbild genommen. Bekannt wurde Chandler durch seinen Roman The Big Sleep — Der tiefe Schlaf (1939), dessen Held der Privatdetektiv Philip Marlowe ist. Chandler veröffentlichte bedeutend mehr Stories, in denen Marlowe die Hauptrolle spielt, als Hammett Geschichten mit Sam Spade. So wurde Marlowe populärer. Das Buch The Little Sister — Die kleine Schwester (1949) beginnt wie folgt:
The pebbled glass door panel is lettered in flaked black paint: “Philip Marlowe ... Investigations.” It is a reasonably shabby door at the end of a reasonably shabby corridor in the sort of building that was new about the year the all-tile bathroom became the basis of civilization. The door is locked, but next to it is another door with the same legend which is not locked. Come on in — there’s nobody in here but me and a big bluebottle fly..
An der Rauhglas-Türscheibe steht mit abblätternder schwarzer Farbe: „Philip Marlowe — Ermittlungen“. Es ist eine ziemlich schäbige Tür am Ende eines ziemlich schäbigen Korridors in einem Gebäude von der Art, wie sie ungefähr in dem Jahr neu waren, als das ausgekachelte Badezimmer zur Grundlage der Kultur wurde. Die Tür ist abgeschlossen, aber daneben ist noch eine Tür mit derselben Aufschrift, die nicht abgeschlossen ist. Treten Sie nur näher es ist niemand weiter drin als ich und eine dicke Brummfliege.
Marlowe residert in Los Angeles; seine Arbeit führt ihn auch in das angrenzende Hollywood. Er bringt das, was die Amerikaner the feeling nennen, das Gefühl, die Atmosphäre von Los Angeles.
Chandler wurde als Quäker geboren. Er konnte sich dem Einfluß dieser Sekte niemals entziehen, wenn er ihren Auffassungen auch distanziert gegenüberstand. Bier, Wein oder gar Branntwein ist für die Quäker eine Erfindung des Teufels. Die folgende Begebenheit zeigt Chandlers Einstellung dazu. Als er einmal mit einem Freund durch Hollywood ging, blieb er plötzlich stehen und meinte:
„Biegen wir hier rechts ab. Da kommt ein Betrunkener. Wenn ich Betrunkene sehe, wird mir immer schlecht!“
Philip Marlowe entspricht in keiner Weise dem, was sich ein Quäker unter einem guten Menschen vorstellt.
„Scotch? Oder sind Sie mehr für einen Cocktail zu haben? Ich mixe einen absolut gräßlichen Martini,“ sagte sie. „Danke, Scotch ist schon recht.“
Marlowe trinkt, und er läßt es dabei nicht mit kleinen Mengen bewenden; außerdem raucht er noch. Den jungen Damen gegenüber zeigt er sich ebenfalls nicht abgeneigt. Im übrigen ist sein Verhalten und seine Ausdrucksweise frech und unverschämt.
„Sie könnten wenigstens reden wie ein Gentleman,“ sagte sie. „Da gehen Sie lieber mal zum Altherrenkub,“ antwortete ich ihr.
Gute bürgerliche Manieren hat Marlowe nicht. Warum sollte er auch? Er lebt nicht wie seine Detektiv-Vorgänger in einer bürgerlichen Welt, er lebt in der Welt der Vorstädte, im Zwielicht, das Marlowe — so will es Chandler — charakterisieren und kritisieren soll. Philip Marlowe bekämpft nicht konstruierte Morde, sondern er kämpft gegen Verbrechen, die alltäglich sind. Der Leser wird so gezwungen, sich mit diesen Verbrechen auseinanderzusetzen. Ein Happyend gibt es nicht immer. Die gerechte Sache siegt zwar, aber Marlowe steht schließlich wieder allein, als einsamer Kämpfer für eine bessere Welt, wenn er auch, betrachtet man seine äußere Gestalt, nicht unbedingt als Vertreter einer besseren Welt zu anzusehen ist.
Chandler glaubt an eine Welt ohne Betrug und Bestechung; aus diesem Grunde glaubt es Marlowe auch und handelt danach. Von der Polizei zur Rede gestellt, meint er in The High Window — Das hohe Fenster:
„Ich sagte: Solange eure eigene Seele käuflich ist, bekommt ihr meine Seele nicht zu kaufen.“
Trotzdem oder vielleicht deswegen war Marlowe sehr erfolgreich. Auf Kritik an seinem Detektiv reagierte Chandler immer sehr heftig. Er selbst charakterisierte Marlowe in einem Brief im Oktober 1951 folgendermaßen:
Wenn es geistige Unreife bedeutet, daß man gegen eine korrupte Gesellschaft revoltiert, ist Philip Marlowe äußerst unreif. Wenn Schmutz sehen, wo Schmutz ist, unzulängliche Einordnung in die Gesellschaft bedeutet, dann hat sich Philip Marlowe unzulänglich eingeordnet. Selbstverständlich ist Marlowe ein Versager, und er weiß es. Er ist ein Versager, weil er überhaupt kein Geld hat. Ein Mann ohne jede physische Behinderung, der sich nicht ausreichend sein Brot verdienen kann, ist immer ein Versager und im allgemeinen ein moralischer Versager. Aber eine Menge sehr guter Menschen sind Versager gewesen, weil ihre speziellen Gaben nicht in ihre Zeit und in ihre Umwelt passten. Ich nehme an, auf lange Sicht gesehen, sind wir alle Versager, oder wir hätten nicht die Sorte Welt, die wir haben. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß Marlowe kein richtiger, wirklicher Mensch ist. Er ist ein Phantasiegeschöpf. Er befindet sich in einer schiefen Situation, weil ich ihn in sie hineingebracht habe. Im wirklichen Leben ist ein Privatdetektiv im allgemeinen ein ehemaliger Polizist mit einer Menge harter, praktischer Erfahrungen, der den Verstand einer Schildkröte hat, oder ein schäbiger kleiner Schnüffler, der herumläuft und ausfindig zu machen sucht, wohin Leute verzogen sind.
Knapp acht Jahre später starb Chandler in La Jolla.
Als legitimen Nacholger von Philip Marlowe und Sam Spade kann man Lew Archer von Ross Macdonald bezeichnen (1915-1983; Pseudonym von Kenneth Millar; seine Frau Margaret Millar schrieb ebenfalls erfolgreiche Kriminalromane — zum Beispiel Beast in view — Liebe Mutter, es geht mir gut). Lew Archer lebt wie seine beiden Vorgänger in Kalifornien, in Santa Teresa, Macdonalds Deckname für Santa Barbara, einer Hafenstadt in Südkalifornien, nordwestlich von Los Angeles.
Macdonald hat den Stil und die Ungezwungenheit von Hammett und Chandler übernommen, hat jedoch den Problemkreis, der die Grundlage für diese Romane bildete, erweitert und auf seine Gegenwart bezogen. Seine Themen sind besonders die zerbrochene Familie und die Suche nach dem verlorenen Vater; sie tauchen in vielen seiner Romane auf. Er gilt wie Hammett und Chandler als einer der führenden US-amerikanischen Romanschriftsteller.
Ross Macdonald bezeichnet Lew Archers Mission in diesen Fällen folgendermaßen:
Es war für die Neue Welt möglich, sich selbst hier zu schaffen. Das ist es, worüber ich schreibe. Anstelle einer traditionellen Struktur, die die Dinge zusammenhält, hat man hier jeden einzelnen Mann, der sein eigenes ethisches Gyroskop hält. Die Technologie ist dabei, alle bedeutenden Beziehungen wegzuwischen und sie durch den Apparat zu ersetzen. Wir müssen lernen, mit den Verlust dieser Beziehungen zu leben, und müssen dies vermenschlichen. Jetzt, da wir erfolgreich zum Mond gelangt sind, müssen wir die Krater auf der Erde erkunden.
Die Krater auf der Erde erkunden und sie zuzuschütten ist die Aufgabe Lew Archers. Er soll nicht nur die fiktiven Mordfälle lösen, die in Santa Teresa und in der Umgebung dieser Stadt geschehen, sondern auch den Leser indirekt durch die Stories ansprechen und auf soziale Mißstände hinweisen und ihn zu einer Lösung in Macdonalds Sinne animieren.
Die erste und wichtigste Beschäftigung Archers innerhalb der Handlung seiner Bücher bleibt jedoch weiterhin, als Privatdetektiv den Wünschen seiner Klientel zu entsprechen und nach der „Wahrheit“ zu suchen. Diese beiden Dinge decken sich oftmals nicht, und es entsteht ein Konflikt zwischen den Pflichten gegenüber dem Auftraggeber, der Lew Archer ja schließlich bezahlt und ihm somit am Leben hält, und der Pflicht gegenüber dem Gesetz und dem allgemeinen Recht. In einem solchen Falle bemüht sich Archer, beidem Genüge zu leisten und seinen Klienten dazu zu bewegen, sich seinem — Archers — Standpunkt anzuschließen.
„… die meisten Polizisten haben ein öffentliches und ein privates Gewissen. Ich habe nur das private, armselig, aber mein.“
„Ich habe Sie also richtig beurteilt; Sie sind tatsächlich ein Gerechtigkeitsfanatiker.“
„Ich weiß nicht, was Gerechtigkeit ist,“ sagte ich, „mich interessiert nur die Wahrheit — nicht die allgemeine Wahrheit, falls es die gibt, sondern die Wahrheit in ganz bestimmten Fällen. Wer was wann und warum getan hat. Vor allem das Warum. Ich frage mich beispielsweise, warum Sie wissen wollen, ob ich für Gerechtigkeit bin. Sie könnten damit indirekt zum Ausdruck bringen, daß ich meine Finger von dem Fall lassen soll.“
Auf dem Highway 101 die Pazifikküste auf und ab erledigt Lew Archer seine Aufgaben und sucht dem Leser die Werte nahezubringen, die Macdonald für ein menschliches Zusammenleben für unerläßlich hält.
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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Ein Essay zum Eigengebrauch. 121 Seiten.
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