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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 8

Kommissar Maigret

Mit Georges Simenons Pariser Polizeikommissar Maigret scheint sich ein neuer Stamm zu begründen.

Helmut Heißenbüttel. Spielregeln des Kriminalromans. 1966.


atürlich blieb der Detektivroman nicht auf Großbritannie­n und die USA be­schränkt. Zunehmend tauchten De­tektive auch in der Li­te­ra­tur anderer Län­der auf. In Europa entstand eine neue De­tek­tiv­gat­tung. Die her­aus­r­­agen­de Ge­stalt, Pro­ta­go­nist und Held, ist der Pariser Kommissar Maigret, erdacht von Georges Simenon (1903-1989). Mehr als siebzig Kriminalromane und nahe­zu dreißig Kurzgeschichten erschienen zwi­schen 1931 und 1972.

Die Romane sind nicht lang, man kann einen davon an ei­nem verregneten Abend durch­lesen. Sie sind entspannt, wit­zig, teilweise poetisch und so ge­schrieben, daß man sich so­fort „in der Familie“ fühlt; nach der Lektüre eines Romans kennt man die Haupt­fi­gu­ren und ist heimisch in Simenons Paris. Seine engen Mitarbeiter, die er oft als „meine Kinder“ tituliert, sind Janvier, „le petit Lapointe“, Lucas — der Ältes­te — und ein paar andere, aber ohne große, un­übersichtliche Wechsel während der vier Jahr­­zehn­te, in den die Bücher er­schienen. Sie haben Maigrets Wertschätzung und sein Ver­trau­en.

Maigret hésite — Maigret zögert (1968) zum Beispiel be­ginnt wie folgt (erst das französische Original, dann eine deutsche Übersetzung):

spaceholder green – Salut, Janvier.

 – Bonjour, patron.

 – Bonjour, Lucas. Bonjour, Lapointe …

 En arrivant à celui-ci, Maigret ne pouvait s'empêcher de sourire. Pas seu­lement parce que le jeune Lapointe arbo­rait un complet neuf, très ajusté, d’un gris pâle mou­cheté de minces fils rouges. Tout le monde souriait, ce matin-là, dans les rues, dans l’autobus, dans les boutiques.

 On avait eu, la veille, un dimanche gris et venteux, avec des rafales de pluie froide qui rappelaient l’hiver, et sou­dain, bien qu’on ne fût que le 4 mars, on venait de se ré­veiller au printemps.

 Certes, le soleil restait un peu acide, le bleu du ciel fragi­le, mais il y avait de la gaieté dans l’air, dans les yeux des passants, une sorte de compli­cité dans la joie de vivre et de retrouver la savoureuse odeur du Paris ma­tinal.

 Maigret était venu en veston et avait parcouru une bonne partie du che­min à pied. Tout de suite en arrivant dans son bureau, il était allé entrou­vrir la fenêtre et la Seine aussi avait changé de couleur, les lignes rouges, sur la cheminée des re­mor­queurs, étaient plus vibrantes, les pé­niches re­mises à neuf.

 Il avait ouvert la porte du bureau des inspecteurs.

 – Vous venez, les enfants ? …

 C'était ce qu’on appelait le «petit rapport», par opposition au vrai rapport qui, à neuf heures, groupait les commis­saires divisionnaires chez le grand patron. Maigret re­trou­v­ait ses collaborateurs les plus intimes.

 – Bonne journée, hier ? demandait-il à Janvier.

 – Chez ma belle-mère, à Vaucresson, avec les enfants.

 Lapointe, gêné par son complet neuf en avance sur le ca­lendrier, se tenait à l'écart.

 Maigret s’asseyait devant son bureau, bourrait une pipe, commençait le dé­pouille­ment du courrier.

 – Pour toi, Lucas … C’est au sujet de l’affaire Lebourg …

 Il tendait d’autres documents à Lapointe.

 – A porter au Parquet …

 On ne pouvait pas encore parler de feuillage, mais il n’y en avait pas moins un soupçon de vert pâle dans les ar­bres du quai.

 Aucune grosse affaire en cours, de ces affaires qui rem­plissent les cou­loirs de la P.J. de journalistes et de photo­graphes et qui provoquent des coups de téléphone impératifs venant de très haut lieu. Rien que du cou­rant. Affaires à sui­vre …

 – Un fou ou une folle, annonça-t-il en saisissant une envel­oppe sur laquelle son nom et l‘adresse du Quai des Or­fèvres étaient écrits en ca­ractères bâtonnets.

 L’enveloppe était blanche, de bonne qualité. Le timbre portait le cachet du bureau de poste de la rue de Miro­mesnil. Ce qui frappa d’abord le com­missaire, quand il retira la feuille, ce fut le papier, un vélin épais et craquant qui n’était pas d‘un format habituel.

spaceholder red „Hallo, Janvier.“

 „Guten Morgen, Chef.“

 „Guten Morgen, Lucas. Guten Morgen, Lapointe.“

 Als Maigret bei ihm ankam, konnte er nicht anders, als zu lächeln. Nicht nur, weil der junge Lapointe einen neuen, sehr taillierten hellgrauen An­zug mit dünnen roten Na­del­­strei­fen trug. Alle lächelten an diesem Morgen — auf der Straße, im Bus, in den Geschäften.

 Der Vortag war ein grauer und windiger Sonntag mit kal­ten Regenböen gewesen, die an den Winter erinnerten, und plötzlich, obwohl es erst der 4. März war, war man im Früh­ling aufgewacht.

 Gewiß blieb die Sonne ein wenig blaß, das Blau des Him­mels war noch etwas sprö­de, aber es lag Fröhlichkeit in der Luft, in den Augen der Passanten, eine Art Kom­pli­­zen­schaft mit der Lebensfreude und der Wiederentdec­kung des köstli­chen Geruchs von Paris am Morgen.

 Maigret war in einem Sakko gekommen und hatte einen großen Teil des Weges zu Fuß zurück­ge­legt. Sofort als er in seinem Büro ankam, hatte er das Fenster ein wenig ge­­öff­net — und auch die Seine hatte ihre Farbe ge­wechselt, der rote Streifen auf den Schorn­stein der Schlepper waren leb­hafter, die Lastkähne sahen wie neu aus.

 Er hatte die Tür zum Büro der Inspektoren geöffnet.

 „Kommt ihr, Kinder?“

 Es war das, was man den „kleinen Rapport“ nannte, im Gegensatz zum ei­gent­li­chen Rapport, der um neun Uhr die Abteilungsleiter um den großen Chef gruppierte. Mai­gret traf seine engsten Mitarbeiter.

 „Guten Tag verbracht gestern?“ fragte er Janvier.

 „Bei meiner Schwiegermutter, in Vaucresson, mit den Kindern.“

 Lapointe, dem sein neuer, dem Kalender vorauseilender Anzug sichtlich peinlich war, hielt sich im Hintergrund.

 Maigret saß vor seinem Schreibtisch, stopfte eine Pfeife und fing an, die Post zu durch­zu­sehen.

 „Für dich, Lucas … es geht um den Fall Lebourg …“

 Er übergab Lapointe einige andere Dokumente.

 „Bring das zum Staatsanwalt.“

 Von Laub konnte man noch nicht sprechen, aber die Bäu­me am Quai hatten einen Hauch von blassem Grün.

 Es gab keine großen Fälle — Fälle, die die Korridore der Kriminalpolizei mit Jour­na­lis­ten und Fotografen füllen und die befehlende Anrufe von sehr hohen Orten her­vor­rufen. Einfach nur das Übliche. Fälle, die erledigt werden muß­ten.

 „Ein Verrückter oder eine Verrückte,“ gab er von sich, als er einen Um­schlag in die Hand nahm, auf dem sein Name und die Adresse des Quai des Orfèvres in Druck­buch­sta­­ben geschrieben waren.

 Der Umschlag war weiß, von guter Qualität. Die Brief­marke trug den Stempel des Postamtes in der Rue de Mirom­esnil. Was dem Kommissar zuerst auffiel, als er den Brief­­bogen herauszog, war das Papier, ein dickes und knisterndes Pergament, das nicht die übliche Größe hatte.

Und damit ist der Leser mitten in der Story. Allerdings scheint in vielen Maigret-Büchern nicht viel zu passieren. Es sind langsame Erzählungen; die Handlung ist nicht das Wich­tig­ste, obwohl immer eine packende Spannung besteht.

Die Lösung eines Verbrechens durch den Detektiv ist nicht die Essenz dieser Romane, es ist die Beschrei­bung Maigrets, eines Mannes in mittlerem Alter, klein­bürgerlich, von Bauern abstammend, um 45, fast 1,80 Meter groß, stattlich, wohlbekannt in Paris durch die Zeitungsber­ichte über ihn und seine Arbeit bei der Kriminal­polizei. Sei­ne Kenn­zei­chen sind Pfeife und Hut. Die Adresse Quai des Orfèvres 36, das Hauptquartier der Kri­mi­nal­poli­zei, ist der Mittelpunkt von Maigrets Leben, doch spielen viele Romane in der fran­zö­si­­schen Provinz, im Elsaß, der Bretagne, an der Riviera — und sogar im Ausland.

Der ruhende Pol seines Lebens ist seine Frau Louise, eine ausgezeichnete Kö­chin; sie sind ein enges, liebevolles Paar, und sie gibt geduldig auf ihn acht.

Wie kommt Maigret zu seinen Resultaten? Er läßt sich mehr von seinem In­stinkt leiten als von wissenschaftli­chen Resultaten der Forensik oder gar von logischen Ab­leitungen. In Les mémoires de Maigret — Maigrets Memoiren (1950) beschreibt Maigret seine Stel­lung zu Simenon, der (erfunde­ne) Protagonist setzt sich mit dem Au­­tor und der Au­tor mit seiner Schöpfung auseinander. Es ist ein sehr unterhalt­sames Buches, in dem Mai­gret auch seine „de­tektivische“ Vor­gehensweise er­läutert:

spaceholder red  Nicht alle Fälle sind einfach. Gewisse Untersuchungen ziehen sich über Monate hin. Manchen Schuldigen be­kommt man erst nach Jahren zu fas­sen, bisweilen durch rei­­nen Zufall.

 In allen oder fast allen Fällen ist das Verfahren das gleiche. Vor allem muß man sich auskennen — sich auskennen im Mi­lieu, in der Umgebung, in der das Verbrechen be­­gan­gen wurde, in der Lebensweise, den Gewohnheiten, Sit­ten, Re­aktionen der Be­tei­lig­ten, der Opfer, der Täter oder einfa­chen Zeu­gen.

 Suchen Sie ihre Welt unbekümmert auf, bewegen Sie sich auf der gleichen Ebe­ne und sprechen Sie ihre Sprache. Das gilt für ein Bistro in La Vilette wie auch für eines an der Porte d‘Italie, für die Araber in ihrer Wohngegend wie für die Polen oder Ita­li­ener, für die Ani­mierdamen von Pigalle wie für die jungen Gangster an der Place des Ter­nes.

 Es gilt auch für die Welt der Buchmacher, Glücksspie­ler, Tresorknacker und Ju­we­len­diebe.

 Deshalb vergeuden wir nicht unsere Zeit, wenn wir jahrein, jahraus die Straßen ab­klo­pfen, Stockwerke er­klimmen oder Warenhausdiebinnen überwachen.

 Es sind unsere Lehrjahre.

Maigret weiß zuzuhören, er ist vertrauenswürdig, ein einfa­cher, sogar gewöhn­licher Mann; es dauert eine Wei­le, bis er sich eine Meinung gebildet hat — und er hat nicht im­mer Er­folg; manche Bücher sind die Beschrei­bung seiner Mißerfolg­e. Mit Maigret hat sich der Typ des Buchdetektivs voll­kommen geändert.

Maigret hatte viele Nachfolger, die meisten eher trivial und vergessen.

Wenn wir zu den analytischen Detektiven zurückkehren: Die Schilderung des mensch­li­chen Wesens und Verhaltens wie auch gegenseitige emotionale Einflüsse wurden weit­­gehend ver­nach­lässigt. Eine sehr gute Charakterisierung des analytischen Detek­tivs findet sich in Ni­cholas Blakes (1904-1972) Buch There's trouble brewing — Tat auf Tat (1937).

Auf die Frage: „Warum geben sie sich mit Kri­minalfällen ab?“ antwortet Blakes De­tek­tiv:

spaceholder red  Es schien mir der einzige Beruf, zu dem einen die huma­nistische Bildung be­fähigte … Wenn sie jemals einen la­teinischen Text einfach so vom Blatt weg ha­ben überset­zen müs­sen, werden Sie wissen, daß das eine genaue Par­allele zu kriminalistischen Untersuchungen ist.

 Sie haben einen langen Satz vor sich mit lauter ver­drehten Wortstellungen. Zuerst kommt er einem vor wie ein wilder Vokabelhaufen. Und genauso kommt einem ein Kriminalfall auf den ersten Blick vor.

 Das Subjekt ist ein Ermordeter; das Verbum ist der mo­dus operandi — die Art der Aus­füh­rung des Verbre­chens, das Ob­jekt ist das Motiv. Das sind die drei Haupt­ele­ment­e jedes Satzes und jedes Kriminalfalles. Zu­nächst sucht man nach dem Subjekt, dann schaut man sich nach dem Verb um, und die beiden zu­sammen füh­ren einen dann zum Objekt. Aber damit hat man noch nicht den Verbrec­her gefunden — den Sinn des ganzen Satzes.

 Es gibt eine Anzahl von Ne­bensätzen, die Anhalts­punkte sein können oder auch fal­sche Fährten, und man muß in sei­nem Köpfchen die einen von den anderen tren­nen und sie dann wieder so zusammensetzen, daß sie dem Sinn des Gan­zen passen und ihn genauer ausführen.

 Es ist ein Exercitium der Analyse und Synthese — die al­lerbeste Vorübung für De­tek­ti­ve.

Doch dieser Typ des Detektivs ist tot. Warum?

Es gibt viele Antworten auf diese Frage, doch kaum eine be­friedigt. Die alten De­tek­ti­ve wie die von Sir Arthur Co­nan Doyle, von Agatha Christie und Rex Stout finden zwar im­mer noch neue Leser, aber sie haben keine gleich­wertigen oder gleichartigen Nach­folger.

Wenn heu­te in Detektivroma­nen analytische Detektive auf­tauchen, sind sie nur blasse Abbilder der alten Detektive. Alle Möglichkeiten und Kom­binationen sind durchgespielt — wie Father Ronald A. Knox voraussagte —, der Leser lang­weilt sich beim Lesen dieser Roma­ne. Zudem ent­spricht die Vorstellung von Gerechtig­keit und Schuld und Sühne für ein Verbrechen in diesen Ro­mane in keiner Weise der heutigen Realität.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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