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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 12
Das Selbstwertgefühl des Menschen

entral, gar entscheidend, in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ist das unbewußte Problem des Selbstwertge­fühls. Voraussetzung für das Selbstwertgefühl ist, was Erich Fromm als Urerlebnis der Liebe des Kindes bezeichnet: Geliebt zu werden, nur weil man existiert, nur weil man da ist, ohne daß vom Kind eine Gegenleistung erwartet wird [26].

Dieses Urerlebnis kann das Kleinkind nur von der eigenen Mut­ter erfahren. Die Grundlage des Selbstwertgefühls ist diese Bezeu­gung der Zuneigung und zwar bereits sehr früh nach der Geburt. Die meisten psychologischen Probleme gehen auf einen Mangel an Selbstwertgefühl zurück und beeinflussen entscheidend lebenslang das Verhalten aller Menschen.

Fatalerweise sind die Eltern nur dann fähig dem Kind dieses Er­lebnis der Urliebe zu vermitteln, wenn sie es selbst erfahren haben — mit anderen Worten, ein als Kind erlebter Mangel an Liebe wird von den Eltern auf die eigenen Kinder übertragen, ein Circulus vi­tiosus, der oft ohne fachmänni­sche Unterstützung über die Genera­tionen schwer zu durchbrechen ist. Aus diesem Grund stellt es ein allgegenwärtiges Problem dar.

Neben dem Urerlebnis der Liebe spielen auch verschiedene an­dere Erlebnisse des Kindes eine wichtige Rolle für das spätere Ver­halten des erwachsenen Menschen. Zu erwähnen sind hier der Um­gang und die Rollenverteilung unter den Eltern wie auch der Rang unter den Familienmitgliedern. Sich diese Probleme vor Augen zu halten ist bei der Beurteilung des Verhaltens der Menschen sehr hilfreich, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Politik.

Ein Problem für das heranwachsende Kind ist der Dualismus zwischen Schein und Sein der Erwachsenen. Das Kind lernt vor al­lem durch Nachahmung und sieht in den Eltern und den Erwachse­nen seine Vorbilder. Daß die Eltern ihrer Aufgabe als Vorbilder für ihre Kinder und für die Jugend oft nicht gewachsen sind, ist das Hauptproblem der Erziehung: Elterndefizite werden zu Defiziten der neuen Genera­tionen.

Ähnliches spielt sich in der Schule auch in der Beziehung zwi­schen Lehrer und Schüler ab. Lehrer, die sich unter Mißachtung der notwendigen Rangordnung zu sehr als „Kumpel“ der Schüler verstehen, verlieren rasch ihre Autorität und Funktion als Vorbilder — eine Tatsache, die schon Platon in seiner Politeia (Der Staat) kritisiert hat.

Negativ wirkt sich eine autoritäre Erziehung nur dann aus, wenn sie doppelbödig ist, wenn beim Erziehenden ein deutlicher Wider­spruch zwischen Sein und Schein, Persona und Schatten — zwi­schen Worten und Taten — besteht, wofür Kinder und Jugendliche ein empfindliches Sensorium besitzen. Echte, wertungsfreie Liebe zum Kind ist das einzige Gegenmittel gegen dieses Dilemma – Lie­be, die dazu führen kann, daß die Erwachse­nen trotz ihrer Schwä­chen als Vorbilder akzeptiert werden können.

Es ist bekannt, daß viele extreme politische Meinungen vertre­tende Politiker — öfter als gemeinhin wahrgenommen wird — mit zerrüttenden oder zumindest emotional unharmonischen familiären Verhältnissen und/oder einem ungelösten Eltern-Kinder-Konflikt aus ihrer Jugend zu tun hatten, und zwar besonders dann, wenn bei den Erwachsenen der Gegensatz Sein und Schein offensichtlich ist.

Oft rebellieren sie und werden Mitglieder extremer Protestbe­wegungen. Die 68er-Bewegung war ein Protest der Jugend gegen die konservative Haltung der Nachkriegsgeneration, deren einzi­ges, an sich verständliches Anliegen der Aufbau des Wohlstandes aus den Trümmern des letzten Weltkrieges war. Ihre Idee der „anti­autoritären Erziehung“ war jedoch ein fatale Fehlentscheidung.

Extrem linke Politiker stammen oft aus sehr konservativen El­ternhäusern. Die Protestparteien sind ganz allgemein ein Auffang­becken für Menschen mit großen Defiziten in ihrem Selbstwertge­fühl, das sie mit der Mitarbeit in einer politischen Gruppe zu einem Gefühl der Geborgenheit hin zu kompensieren suchen. Da die Mo­tivation zu ihrer politischen Haltung unbewußter Natur ist, also vom Betroffe­nen nicht bewußt wahrgenommen wird, sind sie in der Regel mit vernünftigen Argumenten kaum umzustimmen. Aus der Verbin­dung dieser unbewußten (Protest-) Stimmung mit dem Archetyp des verlorenen Paradieses entstand zum Beispiel die Be­wegung der Grünen. Bezeichnend für solche Protestbewegungen ist, daß sie zwar berechtigte Kritik an den Zuständen üben, aber selten kon­struktiv wirken. Der Grund liegt darin, daß um konstruk­tiv zu sein, Selbstwertgefühl eine wichtige Voraussetzung ist.

Selbstwertgefühl und Herdentrieb

Mangelndes Selbstwertgefühl und schwaches Selbstbewußtsein sind der Boden, auf dem der Herdentrieb gedeiht. Der Mensch ver­sucht, diese Mängel mit dem Gruppenerlebnis zu kompensieren und überwinden.

Jung meint dazu:

„Ein Gruppenerlebnis findet auf einem tiefe­ren Bewußtseinsni­veau statt, als wenn es individuell erlebt wird. Es ist nämlich eine Tatsache, daß, wenn viele Menschen zusammen­kommen und sich in einem gemeinsamen Gemütszustand vereini­gen, eine Ge­samtseele aus der Gruppe hervorgeht, welche unter dem Niveau des Einzelnen steht. Wenn eine Gruppe sehr groß ist, entsteht eine Art gemeinsamer Tierseele.“

Und über das Gruppenerlebnis äußert Jung: „Es ist auch viel leichter zu erreichen, denn das Zusammensein von vielen hat eine große Suggestivkraft. Der Einzelne in der Men­ge wird leicht ein Opfer seiner Beeinflußbarkeit. Es braucht nur et­was zu passieren, zum Beispiel ein Vorschlag, der die ganze Mas­se für sich hat, dann ist man auch dabei, auch wenn es unmora­lisch ist. In der Masse empfindet man keine Verantwortlichkeit, aber auch keine Furcht.“ [27]

Der Mensch kann sich wie ein Tier verhalten. Auf Menschen mit Defiziten an Selbstwertgefühl (mit geringer Jungscher Indivi­duation) üben politische Bewegungen und Organisationen mit ei­nem missionarischen Glauben eine große Anziehungskraft aus. In einer Gruppe unter Gleichgesinnten fühlen sie sich geborgen, ge­meinsame, hohe Ideale stärken das Ich-Gefühl und helfen das eige­ne Unvermögen zu verdrängen. Weltanschauungen, Ideologien und von der Religion oktroyierte Normen führen zur Unterdrückung von spontanen unbewußten Regungen, die verdrängt werden müs­sen.

Politische Ideologien, die mit totalitären Methoden ein be­stimmtes Verhalten aufzuzwingen versuchen, indem sie spontane Regungen des Unbewußten unterdrücken, können bis zur völligen Verdrängung des eigenen Ichs, des eigenen Gewissens führen: Es ist die Tragödie der Mitläufer, die sich unter den Diktaturen für die scheußlichsten Verbrechen hergeben. Diese Unterdrückung der ei­genen Regungen zugunsten einer Religion oder politischen Ideolo­gie wird bei der Bevölkerung durch den Normierungsdruck des im Instinkt verankerten Gruppenverhaltens der Masse, den Herden­trieb, gefördert. Der Spruch der Pazifisten-Bewegung: „Stell dir vor es gibt Krieg, und niemand geht hin“ illustriert deutlich diese Zweideutigkeit.

Die Erkenntnis der möglichen Regression des Menschen ins Tierische ist nicht neu. In den Bekenntnissen des Augustinus ist fol­gende Schilde­rung seines Schülers Alypius zu lesen.

Einige seiner Kommilitonen hatten ihn gegen seinen Willen zu einem grausamen Gladiatoren­kampf geschleppt:

„Es war gerade die Zeit, in der die grausamen und tödlichen Spiele veranstaltet wurden. Er [Alypius] sagte zu ihnen: ‚Wenn ihr auch meinen Kör­per an diesen Ort zerrt und dort auszuharren zwingt, so könnt ihr doch meinen Geist und meine Augen nicht auf jene Darbietungen richten. Ich werde zwar anwesend sein, aber trotzdem abwesend, und ich werde auf diese Weise stärker sein als ihr und die Spiele.’“

Sie nahmen ihn trotzdem mit, um zu sehen ob er das bewerk­stelligen könnte.

„Sie betraten das Theater ... Die Begeisterung der Zu­schauer war grenzenlos, die Stimmung am Siedepunkt. Alypius schloß die Augen … doch als das ganze Volk plötzlich während des Kampfes aufschrie und der Schrei an sein Ohr drang, wurde er neu­gierig, und in der Überzeugung er könne alles, was er zu Gesicht bekomme, gering achten und geistig bewältigen, öffnete er die Au­gen … Da wurde er schwerer verwundet als der Gladiator, den er hatte sehen wollen ... und litt erbarmungswürdiger als der, dessen Sturz jenen Schrei ausgelöst hatte ... und seine Augen geöffnet hat­te... In dem Moment, da er nämlich das Blut sah, zog er das unge­heuerliche Geschehen in sich hinein und konnte sich davon nicht abwenden, sondern nahm den Wahnsinn gierig auf, wußte nicht was ihm geschah, fand Gefallen an dem verbrecherischen Kampf und wurde trunken nach Blut. Er war ... einer aus der Masse, in die er geraten war ... Er schaute, schrie, ge­riet außer sich und nahm einen Wahnsinn nach Hause, der ihn an­trieb ... zurückzukehren ... und dabei andere mit sich zu ziehen.“ [28]

Die politischen Parteien

Die politischen Parteien und Bewegungen sind wichtige, von Gruppengefühl begleitete Gemeinschaften der Demokratien. Bei den meist kleinen Gruppierungen, die extre­me politische Meinun­gen und Ideologien vertreten und damit star­ker Opposition ausge­setzt sind, ist das Zugehö­rigkeits- und Identifikationspotential mit der Gruppe besonders stark ausgeprägt, was, zumindest teilweise, ihre mangelnde Bereit­schaft und Unfähigkeit zur politischen Zu­sammenarbeit erklärt. Ganz allgemein kann angenommen werden, daß die Schwierig­keiten, unter den Parteien einen politischen Kon­sens zur Lösung der anstehenden Probleme zu finden, nicht nur in sachlichen oder ideo­logischen Meinungsverschiedenheiten und handfesten Interessen­konflikten zu suchen sind. Ihre Ursache liegt auch darin, daß die Partei­en zu einem Ersatz-Identifikations­objekt innerhalb der anonymen Massengesellschaft werden. Sie lie­fern Anhängern mit geringem Selbstwertgefühl ein Gruppenerleb­nis und erschweren wegen des be­gleitenden Normierungsdrucks eine vorurteilslose, rationale und offene Auseinandersetzung mit ande­ren Meinungen und realen Pro­blemen, was das übergeordnete Ge­meinwohl hinter dem Parteienantagonismus treten läßt.

Aus diesen Betrachtungen wird deutlich, daß viele negative Er­scheinungen des Gruppenverhaltens in der Gesellschaft wie ideolo­gischer, politischer Fanatismus, sei es von rechts und von links, ge­walttätige Massenkundgebungen, Vandalismus und Hooliganismus nur sehr beschränkt mit politischen und polizeilichen Mit­teln be­kämpft werden können.

Ein Verbot solcher Bewegungen und Parteien löst nicht das ei­gentliche Problem. Da das Gruppenverhal­ten seinen Nährboden im Unbewußten des einzelnen Menschen hat, ist ein Verbot lediglich eine Bekämp­fung der Symptome.

Es ist eine ideologische Mode geworden, jedes Fehl­verhalten der Bürger der „Gesellschaft“ anzulasten. Damit kommt man politisch gut an, kann doch jeder damit seine eigene Verant­wortung entlasten. Zu Recht hat die Genfer Philosophin Jeanne Hersch dar­auf hingewie­sen, daß das Wort „Gesellschaft“ eine Fiktion sei, gebe es doch nur einzelne Menschen, die, zusammen, eine Gesell­schaft bilden – und für die einzelnen Menschen sind das Selbst­wertgefühl und die Individ­uation Jungs entscheidend.


Fußnoten

26. Fromm, Erich. The art of loving. Harper: New York. 1956. deutsche Übersetzung: Die Kunst des Liebens. Frankfurt am Main. 1956.
27. Jung, C.G. a.a.O.
28. Augustinus. Bekenntnisse. 6,8 (13).

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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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