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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 2
Die verhaltensbiologische Ver­wöhnung

enn das instinktive Verhaltensmuster: spontaner Aufbau ei­nes Akti­ons­potentials, Anstrengung um ein Ziel zu errei­chen, Erfolg der An­stren­gung, Erfolgserlebnis mit Lustgewinn und Gefühl der Ent­span­nung — also der spontane Energiezyklus — ange­boren ist, muß gefolgert wer­den, daß ein gestörtes oder geänder­tes Gleichgewicht in diesem Zyklus zu einer Störung in der Verhal­tensökonomie führen muß, die Spannungen er­zeugt. Eine Verhal­tensstörung, die übrigens bei Tieren, die in Ge­fan­gen­schaft leben, gut zu beobachten ist.

Die in unserer Wohlstandsgesellschaft am weitesten verbreitete Störung des natürlichen Gleichgewichtes im erwähnten Muster ist die Verwöhnung. Dank seinen kognitiven Fähigkeiten hat es der Mensch verstanden, sich Werkzeuge und Mittel zu schaffen, die die natürliche Anstrengung, die in der Natur zur Triebbefriedigung er­forderlich ist, wenn nicht ganz beseitigt, so doch er­heb­lich erleich­tert hat. Die Notwendigkeit der Nahrungsbeschaffung zur Stillung des Hungers, beim Urmenschen die Hauptbeschäftigung zu seiner Erhaltung, erfordert in der modernen Gesellschaft keine richtige körperliche Anstrengung im stammesgeschichtlichen Sinne mehr.

Es gibt Zahlen die dies eindrücklich belegen: Der Anteil der dem Menschen zur Verfügung stehenden Lebenszeit (unter Abzug der zum Essen und Schlafen be­nö­tig­ten Zeit), die der Arbeit gewid­met ist, ist von 1900 bis 1990 um den Fak­tor 2,5 von 23,5% auf 9,7% gesunken [6]. Ähnlich steht es um alle übrigen Grund­bedürfnis­se des Lebens. Das komfortable Leben mit fließendem Wasser, Auto, und Wohnungen mit Aufzug ha­ben für viele Menschen die für die Le­bens­bedürfnisse notwendige Anstrengung auf ein Mini­mum re­duziert. Dadurch werden große Energiepotentiale frei, die ander­weitig eingesetzt werden müs­sen, um abgebaut zu werden.

Der zivilisierte Mensch kann dies auf vielfältige Art tun. Er kann diese Po­ten­tiale zum Beispiel in einer anstrengenden Arbeit einsetzen oder in die wis­sen­schaft­liche Forschung oder in die künstleri­sche Schöpfung investieren. Sport ist eine weitverbreitete, immer beliebtere Art, um dieses angeborene Ver­hal­tens­muster ri­tualisiert auszuleben und den in unserer zivilisierten Welt zu wenig geforderte Körper zu fordern. Der Ablauf von Antrieb, Anstren­gung im Training und Wettkampf und mit Lustgefühlen begleite­tem Erfolg, kommt im Sport exemplarisch zur Darstellung. Jedem Zu­schauer eines Fußballspiels sind die Bilder des vollen Einsatzes der Spieler und deren Freudentaumel nach ge­schos­senem Tor wohl vertraut, genauso wie die Bilder des Glücksgefühls des Athleten bei der Entgegennahme einer Medaille.

Als Verwöhnung im verhaltensbiologischen Sinn versteht man somit die Mög­lich­keit, im instinktiven Verhaltensmuster das Lust­gefühl der Instinkthandlung gemäß dem Gesetz der doppelten Quantifizierung durch höheren Reiz bei ge­rin­gem Antrieb mit nur geringer Anstrengung und ohne Aufschub zu erreichen. In der Er­ziehung bedeutet Verwöhnung, daß das Kind seine Wünsche sofort be­friedigt bekommt.

Falls der Mensch die Spontanpotentiale nicht anderweitig ab­baut, gerät er in einen Teufelskreis: Die Lust des Erfolgserlebnisses kann immer öfter mit immer geringerer Anstrengung erlebt wer­den. Die Maschinen haben dem modernen Menschen die körperli­che Anstrengung der Routinearbeit abgenommen, die Com­pu­ter­­technik führt zu ähnlichen Resultaten im geistigen Bereich. Der un­­ge­nügende Abbau der spontanen Energiepotentiale führt zur er­wähnten Stö­rung im Haushalt der Instinkte, die von Unlustgefüh­len und Unzufriedenheit begleitet ist. Es kann sich aggressive Lan­geweile einstellen.

Die Verwöhnung im Wohlfahrtsstaat

Die Wohlstandsgesellschaften befinden sich in einer tiefen Kri­se, die mit dem beschriebenen angeborenen instinktiven Verhaltens­muster des Menschen eng zusammenhängt. Der Mensch lebt in ei­nem immerwährenden Spannungsfeld zwischen den spontanen Energien (die uns im Zusammenhang mit dem Ag­gres­sions­trieb nä­her beschäftigen werden), die ihn zu neuen Ufern und zum Fort­schritt antreiben, und dem der Reflexion entstammenden Bedürfnis nach Si­cher­heit und Bewahrung des Erreichten. Dieses Spannungs­feld ist insofern kon­flikt­reich, als die Spontantriebe zur Dynamik und Veränderung treiben, wo­ge­gen das Bedürfnis der Vernunft nach Si­cher­heit im Widerspruch zur Ver­än­de­rung steht, die immer mit Ungewißheit und mit den Risiken des Unbekannten verbunden ist und somit den Abbau dieses Antriebspotentials verhindert, was wiederum von unbewußten Unlustgefühlen und Unzufriedenheit begleitet wird. Diese Störung im Bereich des In­stinktlebens wird durch den Ver­sor­gungs­staat verstärkt, der zwar dem Bedürfnis nach Sicherheit entgegenkommt, je­doch gleichzei­tig der Dynamik des angeborenen Strebens nach neuen Zielen dem im Instinkt veran­kerten Verhaltensmuster im Weg steht.

Im gleichen Sinne wirkt das sozialistische Postulat der als so­ziale Gerechtigkeit bezeichneten Umverteilung des Reichtums. Dies ist ein ideologischer Irrweg, der in keiner Weise die Befind­lichkeit der Menschen verbessert.

Es ist eine kaum zu widerlegen­de Feststellung, daß die Men­schen in den rei­chen Versorgungs­staaten zwar wohlhabender, aber nicht glücklicher leben, als die in den ärmeren Gesellschaften. Ganz im Gegenteil, die Verwöhnung schafft Unzufriedenheit, denn nicht der Wohlstand macht den Men­schen zu­frie­den, sondern die Möglichkeit nach Wohlstand zu stre­ben, und dies wird vom Versor­gungsstaat behindert.

Dieser Konflikt kommt besonders in der Arbeitswelt zum tra­gen. Der Arbeit­nehmer möchte immer einen sicheren Arbeitsplatz. Der sichere Arbeitsplatz (zum Beispiel als Staatsbeamter) bietet aber geringe Möglichkeiten den spon­tanen Energiezyklus im Beruf auszuleben, was zur Unzufriedenheit führt. Mit diesem instinktiven Verhaltensmuster ist auch das bekannte Parkinson-Prinzip in der Bürokratie zu erklären: Der spontane Energiezyklus wird mit einer Auf­blähung des bürokratischen Apparates abgebaut.

Wer in dieser Situation im privaten Lebensbereich zum Beispiel durch Sport, handwerkliche Tätigkeit oder Musizieren zu einer Be­friedigung dieses Triebes kommt, findet auch in einem solchem Beruf zu einem zu­friedenen Leben.

Ein ähnliches Schicksal trifft reiche Erben. Wenn sie nicht in eine fordernde Aufgabe eingebunden werden und dank ihrem Reichtum sich jeden Wunsch leicht erfüllen können, kommt es zu erheblichen Verhaltensstörungen. Bei­spie­le füllen die Klatschspal­ten der Zeitungen.

In verhängnisvoller Weise machen sich Politiker und Gewerk­schaftler die durch Verwöhnung verhaltensbiologisch begründete, unbewußte Unzufriedenheit zu Nutzen, um mit immer höher ge­schraubten Forderungen die Gunst der Wähler und Gewerkschafts­mitglieder zu gewinnen. Sofort nach der Entspannung durch eine erfüllte Forderung fängt der Aufbau eines neuen Potentials der Un­­zu­frie­den­heit an. Der Verstand reagiert auf dieses Gefühl mit ei­ner Spirale von For­de­rungen — nach dem Prinzip der doppelten Quanti­fizierung, mit immer ge­rin­gerer Anstrengung ständig mehr zu er­reichen — die den Versorgungsstaat un­wei­gerlich in den Ruin trei­ben muß.

Die Verwöhnung hat aber auch andere negative Folgen. Mit der Zeit verliert der verwöhnte Mensch die Bereitschaft, ja sogar die Fähigkeit, die stam­mes­ge­schicht­lich vorgesehene Anstrengung auf sich zu nehmen, die es zu Be­frie­di­gung seiner instinktbedingten Bedürfnisse bedarf; er wird von der Hilfe immer abhängiger (auf den gleichzeitigen Verlust des individuellen Solidaritätssinnes im Versorgungsstaat soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden).

Im Falle der Not wird er hilflos, hoffnungslos, frustriert und re­signiert, was in einer wirtschaftlichen Rezession deutlich zum Vor­schein kommt. Gleichzeitig stauen sich mit Frustration und Unzu­friedenheit immer stärkere, gefährliche, nicht abgerufene Energie­potentiale auf, die in sozialen Unruhen münden.

Die Irrlehre des Egalitarismus

In engem Zusammenhang mit dem Gedanken der Umverteilung im Wohl­fahrts­staat, steht die für den Rationalistischen Konstruktivis­mus typische Milieu­theo­rie, der Behaviorismus, wie ihn John B. Watson [7] im Jahre 1930 ver­tre­ten hat.

Diese Theorie geht von der Annahme aus, der Mensch sei bei seiner Geburt eine Tabula rasa, ohne angeborene, genetisch veran­kerte Verhaltensmuster, und alle Menschen seien bei Geburt gleich. Diese Theorie in ihrer reinen Form hat heute in der Wissenschaft keinen Platz mehr, in der Politik hingegen be­steht die verhängnis­volle Tendenz, solche Theorien zu sich lange haltenden Ideologien umzufunktionieren – Ideologien, die den Politikern die Möglich­keit bieten, die Dinge in nicht stichhaltiger Weise zu simplifizieren und über die Tatsache hinwegzutäuschen, daß es keine einfachen Pro­bleme gibt, wie dies Karl Popper for­mulierte.

Die Idee der Gleichheit aller Menschen entspringt einem durch­aus wohl­ge­mein­ten menschlichen Ideal, doch entspricht sie nicht der Realität in der Natur. Nicht alle Tiere der gleichen Art und Ras­se sind unter sich gleich, einige Exemplare haben große Überle­benschancen, andere sind dem Untergang ge­weiht — es findet eine natürliche Selektion statt.

Gerade diese Vielfalt der Natur, in der die verschiedenen Eigen­schaften der Lebewesen eine zufällige Ver­teilung erfahren, stellt ih­ren Reichtum und ihre Faszination dar und ermöglicht erst die Evo­lution, denn die durch die Un­gleich­heit er­zeugte Spannung ist die notwendige Voraussetzung dazu.

Verständlicherweise findet das Ideal der Gleichheit bei den Wählern großen Anklang: Welcher Bürger will nicht gerne zuhö­ren, wenn ihm die Politiker weismachen, daß in einer gerechteren Welt jeder Mensch die Möglichkeit hätte, über die gleichen Güter wie sein reicher Nachbar verfügen zu können, und daß die äußeren Lebensumstände und nicht Leistungen für die Un­gleich­heiten ver­antwortlich sind.

Dieses Ideal wird politisch schamlos dazu mißbraucht, bei den weniger er­folg­rei­chen Individuen den sozialen Neid zu schüren und für sich auszunützen. Es ist eine irrige Dok­trin zu behaupten, daß es nur Arme gibt, weil „die Ge­sell­schaft“ ungerecht ist. Die Geschichte der Menschheit beweist, daß die Ar­mut eine Erschei­nung ist, die in allen Gesellschaften unabhängig von Staatsform und Volksreichtum anzutreffen ist und zur Un­gleichheit der Men­schen gehört.

Aus diesen Gründen ist es nicht folgerichtig und haltbar, wie dies die sozia­listische Doktrin tut, moralisch die Reichen für die Armut der Armen ver­ant­wort­lich machen zu wollen. Das ist ein entschei­dender Denkfehler, der übri­gens auch eine andere Tatsache ver­kennt, die den wirtschaftlichen Niedergang der egalitaristischen Gesellschaften beschleunigt. Das der Leistung ent­spre­chen­de Ein­kommen wird im egalitaristischen Versorgungsstaat durch gleichen Lohn für gleiche Arbeit ersetzt — mit der Folge einer Leistungsmin­derung: Wer für seine Arbeit höher als seine erbrachten Leistungen entlohnt wird, wird kaum zur Leistung angeregt, wer unter seiner Leistung bezahlt wird, wird sei­ne Leistung mindern. Nur die Un­gleichheit der Belohnung fördert die Zu­frie­den­heit und wirtschaft­liche Leistung.

Es sei daran erinnert und hervorgehoben, daß dieses Verhalten den Be­trof­fenen (der Moral hazard) nicht bewußt und somit nur schwer zu bekämpfen ist. Diese aus der Wirtschaftslehre bekannte Tatsache (zum Beispiel: Friedrich L. Sell [8]) hat inso­fern auch einen verhaltensbiolo­gischen Ursprung, als der Egalita­rismus dem angeborenen instink­tiven Zyklus falsche Reize gibt.

Siebzig Jahre kommunistischer Diktatur haben bewiesen, daß diese Reaktion der Menschen einem stammesgeschichtlich entstan­denen, angeborenen, in­stinkt­mäßigen Muster entspricht, das sich jeder durch die Vernunft mit Gewalt erzwungenen Änderung entge­genstellt. Es ist bedauerlich, daß diese Er­kennt­nisse und das Wis­sen der Verhaltensforschung noch nicht ins allgemeine Wissen ein­gegangen sind. Das tiefe Niveau der diesbezüglichen Bildung der Politiker ist ernüchternd. Statt das unveränderbare angeborene, menschliche Verhalten, wie die Geschichte lehrt, erfolglos verän­dern zu wollen, wäre es weit er­folg­reicher, es zu verstehen und ent­sprechende realistische Lösungen zu suchen, die es berücksichti­gen.

Die Falle des Versorgungsstaates

Der englische Journalist James Bartholomew hat eine ausführli­che Analyse [9] des englischen Wohlfahrtstaates gemacht und ist zu ei­nem vernichtenden Schluß gekommen.

Es war ja nicht so, daß es in England vor der Einführung des Welfare durch die Labour-Regierung keine Institutionen zum Auf­fangen der Armut gegeben hätte. Diese Funktion wurde von mei­stens sehr effizienten, privaten und kirchlichen Institutionen über­nommen, die von den Reichen finanziert wurden. Die Ver­tei­lung der Hilfe stand in der Verantwortung der Geistlichen und wurde per­sön­lich und individuell gehandhabt, was Mißbräuche erschwer­te.

Aus seiner Analyse des Englischen Versorgungsstaates sei bei­spielhaft das Pro­blem der Hilfe an nicht geschiedene, alleinerzie­hende Mütter erwähnt. Daß eine solche Hilfe ihre moralische Be­rechtigung hat ist unzweifelhaft, dennoch hatte sie im Endresultat in vielen Fällen katastrophale Auswirkungen, nicht nur für die Staatsfinanzen.

Nach Einführung einer großzügigen Staatshilfe ist die Anzahl der allein­erzie­henden Mütter im Teenageralter ohne eine eheliche oder feste Beziehung zu einem Mann sprunghaft gestiegen und ihr Alter gesunken. Um die Staats­unter­stützung nicht zu verlieren, ar­beiten diese Mütter meistens nicht, denn für ein nur wenig verbes­sertes Einkommen, lohnt sich die Mühe der Arbeit kaum: das Le­ben solcher vom Staat unterstützten Frauen wird zu einer Existenz ohne Per­spek­tiven eines Aufstiegs.

Diese Frauen leben oft in unverbindlichen, unsteten Partner­schaften mit wech­seln­den Männern, ohne heiraten zu wollen, um die Rente nicht zu ver­lieren. Männer, die sich der Ver­antwortung gegenüber den Kindern ihrer Part­nerin entziehen, sind eine schlechte Lösung für das Leben der Kinder. Man hat festge­stellt, daß Adoptivväter sich 32mal häufiger des Kindesmißbrauchs schul­dig machen als leibliche Väter. Kinder alleiner­ziehender Müt­ter zeigten we­sent­lich schlechtere Schulleistungen. Schließlich lag die Selbstmordrate dieser Frauen und ihrer Kinder wesentlich über dem Durchschnitt.

Alle diese Fakten sind den Betroffenen natürlich nicht bewußt, sie verhalten sich einfach gemäß den Anreizen – ein ethisches Di­lemma, dem man nur mit einer intensiven, persönlichen, menschli­chen Unterstützung dieser Mütter be­geg­nen könnte. Das interes­sante an Bartholomew ist, daß er sich in seiner Kri­tik nicht spezi­ell auf die wirtschaftlichen, sondern vor allem auf die negativen menschlichen Folgen des Versorgungsstaates konzentriert hat.

Alternative zur Verwöhnung

Wie wir mit diesem Beispiel gezeigt haben, führt wegen der ver­­hal­tens­bio­logischen Anlage des Menschen die Erfüllung immer hö­herer Forderungen durch den Versorgungsstaat zu Verwöhnung, ver­bunden mit Unlustgefühlen und Unzufriedenheit, was zu immer neuen Forderungen führt: ein Teufelskreis.

Einmal zugestandene Leistungen des Staates, seien sie rational noch so un­ge­recht­fertigt, sind politisch deswegen kaum rückgängig zu machen, weil dies dem angeborenen instinktiven Verhaltensmu­ster entgegen läuft. Dies ist die Erklärung dafür, daß es gegen den Verstand politisch fast unmöglich ist, ein­mal zugestandene Leistun­gen des Staates zurückzunehmen. Die be­ste Organisation eines Staates ist die, die sich darauf be­schränkt, Rahmenbedingungen zu schaf­fen, die es jedem einzelnen Menschen erlauben, durch eigene Leistung und auf eigene Verant­wortung immer neue Ziele anzustreben, seine Situation zu ver­bessern und somit den natürlichen Ablauf des instinktiven Ver­hal­tens­musters zu ermöglichen. In der Sprache der Politik heißt dies: „Gleiche Chan­cen für alle“.

Nur eine derartige Organisation fördert den Wohlstand und die Zu­friedenheit des Menschen, denn Anstrengung ist eine stam­mes­­ge­schicht­lich pro­gram­mierte, angeborene Notwendigkeit. Bartho­lomew weist darauf hin, daß es keine idealen Lösungen für dieses Dilemma gibt. Auf das Schweizer Sozial­system hinwei­send könn­ten nach seiner Meinung die negativen Folgen der Sozi­alhilfe durch ein so dezentral wie möglich organisiertes Sozialwe­sen, das individuell Hilfe leistet, minimiert werden.

Selbstverständlich gibt es in jeder Gesellschaft eine Anzahl Men­schen, die — ohne eigenes Verschulden — dieser Aufgabe nicht ge­wachsen sind und Hilfe benötigen. Alle sind sich auch darüber einig, daß der Mensch als re­flek­tie­ren­des und lernfähiges Wesen nicht von der moralischen Verpflichtung befreit wer­den darf, die Armut in der Gemeinschaft zu lindern.

Bei der ethisch gebotenen Hilfe des Staates muß aber genau darauf geachtet werden, daß sie nicht zur Verwöhnung entartet und zu Mißbrauch animiert. Das könnte man so formulieren: „Es ist eine Pflicht des Staates den Armen zu helfen, aber es ist kein Recht des Armen diese Hilfe einzufordern.“ Sobald die Staatshilfe ein Recht wird, verändert dies unbewußt das Verhaltensmuster der Empfänger. Eine ungerechtfertigte Staatshilfe för­dert die Verwöh­nung mit all ihren Nachteilen. Man muß der ver­einfachenden Illu­sion entgegentreten, wirt­schaft­liche Hilfe des Staates allein könne alle Probleme der Armut der Men­schen lösen: sie ist höchstens eine Voraussetzung dazu. Eine als Rechtsstaat or­ganisierte Gesellschaft braucht verbriefte Spielregeln, die es jedem Bürger er­lauben, im Wettbewerb bestehen zu können, aber auch zu müssen.

Entwicklungshilfe und Verwöhnung

Das Fehlen solcher Bedingungen ist besonders in Entwicklungslän­dern ein großes Übel. Das von den reichen Ländern zur Verfügung gestellte Geld fließt in wenige Taschen korrupter Politi­ker und Ge­schäftsleute, und für die Ärmeren eröffnet sich kaum eine Chance aus eigener Kraft, die eigene Lage zu ver­bes­sern. Dies führt zu Hoffnungslosigkeit und Resignation, was einer Lähmung des ange­borenen Verhaltensmusters entspricht.

Deswegen sollte auch die Hilfe an die Ärmsten verhaltensbiolo­gisch angepaßt sein. Für jede Entwicklungshilfe muß vom Empfän­ger eine Gegenleis­tung ge­for­dert werden — sei sie noch so beschei­den, damit das an­geborene Ver­hal­tens­muster zur Selbsterhal­tung angeregt wird. Hil­fe ohne Forderung nach Gegenleistung er­zeugt nicht Dankbarkeit, sondern nur Undank, wie das zu oft von Ent­wicklungsländern vor­geführt wird. Nahrungsmittelhilfen an vom Hunger geplagten Be­völkerungen helfen zwar Leben retten, wirken sich aber auf Dauer verheerend aus, weil sie auf die Ei­geninitiative lähmend wirken.

Das Problem der Entwicklungshilfe ist politisch besonders bri­sant und aktuell. Leider scheint heute nur ein Rezept vorzuherr­schen: mehr finanzielle Mittel.

Ohne hier im Detail auf politische Aspekte näher eingehen zu wollen, ist die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten an die Be­völkerung besonders für Völker in einer frühen Phase ihrer Evolu­tion viel effizienter als teure in­dus­tri­elle Investitionen. Das vermit­telte Wissen und die Fertigkeiten müssen an die sozialen und kultu­rellen Verhältnissen angepaßt werden. Besonders wichtig ist eine bessere Bildung der Frauen.

Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß auch in demo­kratisch ent­wick­el­ten Rechtsstaaten westlicher Prägung in der Wirtschaft das Prinzip der gleich langen Spieße für alle noch längst nicht respektiert wird. Die politische Be­vor­tei­lung mächtiger Kon­zerne mit Tausenden von Angestellten in einer ano­ny­men Arbeits­welt gegenüber den kleineren Unternehmen mit ihrem per­sön­­li­chen Umgang mit den Angestellten, die ein Ausleben des sponta­nen Ener­gie­zyklus fördert, ist leider im Zuge der Internationalisie­rung der Wirtschaft und der Bildung immer größerer Konglomera­te in unserer Gesellschaft ein weit verbreitetes Übel — was den Kritikern des Kapitalismus als Vorwand für dessen Abschaffung dient.

Die großen Verfechter der Marktwirtschaft wie Wilhelm Röp­ke [10] ha­ben mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß für die Markt­wirtschaft Regeln notwendig sind, deren Fundament „jenseits von An­gebot und Nachfrage“ im ethischen Be­reich liegen und dem Lernprozeß des Menschen entstammen.


Fußnoten

6. Fritsch, B. Zitiert von Nentwig, Wolfgang. Humanökologie. Berlin: Springer. 1995. 51.
7. Watson, John B. Behaviorism. Chicago: University of Chicago Press, 1930.
8. Sell, Friedrich L. Gleichheit ist wenig brüderlich. Grundzüge einer Theorie der optimalen Vielfalt. Neue Zürcher Zeitung; 28. Juni 1997: 147, 39.
9. Bartholomew, James. The Welfare State We're In. London: Biteback Publishing. 2013.
10. Röpke, Wilhelm. Jenseits von Angebot und Nachfrage. 1958. Düsseldorf: Verlagsanstalt des Handwerks. Neuauflage 2009.


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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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