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Alexander von Wyttenbach:
Die Vernunft als Untertan des Unbewussten


Kapitel 11
Das individuelle Unbewußte des Menschen und seine Gefühle

eben den Kräften der Welten der Instinkte und des kollektiven Unbewußten mit seinen Archetypen ist der Mensch auch de­nen der eigenen, unbewußten Biographie ausgesetzt. Dies prägt ent­scheidend das Verhalten und die Interaktion des Menschen in sei­nem sozialen Umfeld. Mit diesen Bereich beschäftigt sich eine große Anzahl von Artikeln und Bücher, so daß hier nur einige für die Gesellschaft und der Politik relevante Aspekte angesprochen werden, zumal diese Seite der menschlichen Psyche dem zeitge­nössischen Menschen eher bewußt ist. Die große Verbreitung der Psychotherapie zur Lösung vieler psychischer Probleme gibt Zeug­nis davon.

Zentral in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im emotionalen Bereich ist das Problem des Selbstwertgefühls. Ein Urbedürfnis des Menschen ist die Liebe, nur die Liebe kann dem Menschen das Urvertrauen geben, das die Grundlage für ein menschlich ausgeglichenes, konstruktives Leben darstellt.

Persona und Schatten

Die Begriffe der Jungschen Psychologie von Persona und Schatten haben nicht nur im Bereich der Psychotherapie eine grundlegende Bedeutung, sondern auch im Verhalten des gewöhn­lichen Men­schen in der Gesellschaft. Aus diesem Grunde soll diese Bipolarität hier erwähnt werden.

Im Rahmen seiner Sozialisation macht der Mensch die Erfah­rung, daß es ihm nicht möglich ist, seine unbewußte Spontaneität unkontrolliert auszuleben. Die von der Kultur unerwünschten spon­tanen, unbewußten Regungen werden unterdrückt und somit ver­drängt, sie werden zu einem, dem Menschen nicht bewußten Schatten.

Als Gegenpart pflegt und entwickelt er, mehr oder weniger be­wußt, die Seiten seiner Persönlichkeit, die von der Umwelt rational er­wünscht sind.

Er legt sich damit unbewußt eine Maske auf, die Persona (latei­nisch = Maske): die Umwelt kann nicht die im Unbewußten ver­borgene, tiefere Persönlichkeit wahrnehmen, sondern nur die Persona. Das Spannungsfeld zwischen Persona und Schatten, die Bi­polarität des Menschen wird umso stärker, je schwächer das Selbst­wertgefühl ist. Der Schatten ist dem Einzelnen nicht bewußt zu­gänglich, sondern nur in seinen Erscheinungen: Im Wesentlichen ist unser Schatten das, was uns, in uns selber zuwider ist und wir auf andere projizieren.

Dieses Phänomen ist für das „überraschende“ Verhalten vieler Menschen verantwortlich, wenn „gute, unauffällige“ Familienväter sich an der eigenen Tochter vergehen oder wenn ein von der Ge­meinde respektierter, tugendhafter Geistlicher dem Trieb folgend, auf sexuelle Abwege gerät.

Von besonderer Bedeutung ist dieses Phänomen, wenn sich an­gesehene, öffentliche Persönlichkeiten und Politiker schwerer Straftaten schuldig machen (zum Beispiel Korruption, Veruntreu­ung oder Falschaussagen). Dieser Gefahr sind in Politik und öffent­lichem Leben besonders viele Menschen ausgesetzt, die sich für gute Sachen einsetzen: Mit diesem Einsatz versuchen sie unbe­wußt, ihren Schatten zu verber­gen.

Persona und Schatten in der Kunst

Der Dualismus von Persona und Schatten kommt in der Kunst, speziell in Literatur und Theaterkunst, immer wieder zum Vor­schein, die Beispiele sind zahlreich.

Das aus der Literatur wohl be­kannteste Paar dürften Goethes Faust und Mephisto sein, ein univer­sales Meisterwerk der Dich­tung, in dem dieses doppelte Gesicht des Menschen, der Dualismus von Persona und Schatten, Bewußtsein und Unbewußtes, in all sei­ner Vielfalt zur Darstellung kommt.

Als weiteres reizvolles Bei­spiel soll die Genialität von Lorenzo Da Ponte, dem Librettisten der Mozart-Opern, hervorgehoben wer­den. Don Giovanni und Lepo­rello, Conte Almaviva und Figaro, aber auch Schikaneders Zauber­flöte mit den Personen von Pamino und Papageno sowie Pamina und Papagena, stellen alle ein mei­sterhaftes Portrait der Protago­nisten und ihrer Schatten dar. In Così fan tutte hat sich Da Ponte mit dem doppelten Rollentausch der Personen gar selber überbo­ten. Dank der Vertonung dieser Texte, mit der dem Ohr schmeicheln­den, liebenswürdigen, witzigen und den­noch tiefgründigen Musik Mozarts wurden diese Opern zu ei­ner Sternstunde der Musik und der Kultur schlechthin.

Dieses Spiel mit der unbewußten Dualität des Menschen er­klärt auch, warum völlig unwahrscheinlich anmutende Handlungen in Oper und Theater die Zuschauer immer wieder faszinieren und in ihren Bann zieht. Wenn man sich die Mühe macht die Theater­kunst unter diesem Gesichtspunkt zu analysieren, kann man verblüfft feststellen, wie der gleiche archetypische Literaturstoff über Jahr­hunderte von verschiedenen Dichtern aufgegriffen und mit den un­terschiedlichsten Überarbeitungen auf eine im­mer wieder anspre­chende Art der Darstellung uns dargeboten wurde.

Die Persona und die demokratische Macht

In einer Demokratie ist die Macht nur dann zu gewinnen, wenn der Machtsuchende ein Mensch ist, der sich so verhält, wie es von der Kollektivität gewünscht wird. Der Kandidat wird als Persona ge­wählt: dafür, wie er sein möchte und sich gibt – volksverbunden, debattierfähig, sozial, sportlich, telegen, Verteidiger der sozialen Gerechtigkeit, um nur einige Eigenschaften zu nennen.

Die große Anzahl angesehener, erfolgreicher Politiker, die in Skandale verwickelt sind, weil sie sich als korrupt erweisen oder sich im Privatleben unmoralisch verhalten — die Doppelmoral der Politiker — ist ein Ausdruck ihres Schattens. Ihr politischer Erfolg ist eine Begleiterscheinung des demokratischen Wahlverfahrens, denn der Wähler nimmt nur die Persona des Politikers wahr, sein Schatten bleibt dagegen verborgen.

Korrupte Politiker sind demnach eine natürliche Erscheinung der Mechanismen des Unbewußten, die in der Demokratie zum Vorschein kommen. Der Preis, den man für die Demokratie (oder auch nur eine Scheindemokratie) bezah­len muß, ist demnach leider hoch: Die Bürger lassen sich von den Politikern verführen, die ih­nen eine Zukunft verheißen, die sie sich unbewußt wünschen, und wählen nicht Menschen, sondern ihre Masken.

Überraschenderweise wählen sie sie als Helden auch dann, wenn die Maske schon längst heruntergefallen ist und paradoxer­weise lesen die gleichen Bürger, die solche Politiker gewählt ha­ben, gierig ihre Skandalgeschichten in den Medien und zeigen sich dann betroffen und bestürzt.

Eine Verbesserung des demokratischen Systems kann nur durch ein größeres Bewußtsein und eine bessere Kenntnis dieses Phäno­mens des Unbewußten erreicht werden, damit die Bürger lernen kritischer zu sein und bei politischen Wahlverfahren mehr der Rea­lität denn unbewußtem Wunschdenken zu folgen. Dies setzt aller­dings eine Individuation in Sinne Jungs voraus.

Die Medien als Erbauer der Persona

Daß gerade heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, das Pro­blem der doppelten Moral der Politiker moderner Demokratien beson­ders akut zutage tritt, ist in weitem Maße den Massenmedien zuzu­schreiben. Da sie aus kommerzieller Notwendigkeit darauf ange­wiesen sind, die Gunst der Leser zu gewinnen, müssen sie das ver­mitteln, was die Masse der Leser erwartet und Emotio­nen erregt.

Dies ist nicht der wahre Mensch mit seinen Schatten, sondern was auf ihn projiziert wird. Die Projektion ist entweder der Inbe­griff des Guten oder des Bösen, was dazwischen liegt, der wahre Mensch, der weder nur gut noch nur böse ist, ist für die Medien un­interessant. Solange Showstars oder Spitzensportler zu idealisierten Personae hochstilisiert werden, ist es noch harmlos und tolerabel.

Die Medien haben allerdings einen großen Einfluß auf die Gunst eines Politikers bei den Wählern. Besonders das Fernsehen ist in der Lage aus jedem Politiker eine Persona grata zur Persona non grata zu machen und umgekehrt.

Die zum Aufbau oder Abbau einer Politikerpersönlichkeit ange­wendeten Mittel sind probat und gut bekannt: hervorheben oder auslassen einer Aussage, aus dem Kontext entrissene und dadurch mißverständliche Zitate, tendenziöse Fragen um erwünschte Ant­worten zu bekommen, Verdächtigungen, Klatsch über das Privatle­ben.

Aus diesem Grund sind die Politiker in der Demokratie den Medien ausgeliefert und gezwungen das Spiel mitzumachen, denn profilierte Persönlichkeiten, die dazu nicht bereit sind, haben kaum politische Aufstiegs- und Wahlchancen. Selbst wenn dies ihnen be­wußt wird, müssen Politiker hinnehmen, daß die Medien ihre Per­sönlichkeit zu einer Persona, einer Maske, verstellen (müssen).

Indem sie hemmungslos die Persona der Politiker geradezu züchten, statt nach ihrer wahren Persönlichkeit zu suchen, werden die Informationsmedien, die sich gerne hochtrabend als Gralshüter der Demokratie und der Moral aufspielen, in Tat und Wahrheit zu Totengräber der wahren Demokratie: Sie fördern die Regression der Massen. Die Gesellschaft braucht nicht Masken, sondern als Ver­antwortungsträger den wahren Menschen, mit seinen Tugenden und Schwächen.

Wichtig für den Politiker ist eine gute Politik — mit wem er ins Bett steigt, ist für den Bürger hingegen unbedeutend. Auch in die­sem Zusammenhang ist die Kenntnis und ein größeres Bewußtsein des Phänomens seitens der Medienschaffenden die einzige Hoff­nung, daß sie ihre Funktion in einer Demokratie verantwortungs­voller wahrnehmen können. In der letzten Publikation vor sei­nem Tode, hat der Philosoph Karl Popper zu Recht eine bessere Ausbil­dung und eine starke Standesorganisation der Medienschaf­fenden gefordert — mit einer internen deontologischen Kontrolle.

Die Machtmenschen und ihr Sexualverhalten

Besonderes Interesse als Ausdruck der menschlichen Bipolarität verdient es das Problem der Beziehung zwischen Macht und Se­xualverhalten erneut aufzugreifen. Bei den Herrschern der Vergan­genheit ist bekannt, daß sie neben der geehelichten Frau sehr oft Mätressen hatten.

Dies kann, zumindest teilweise, damit erklärt werden, daß die Ehen nicht aus Zuneigung zustande kamen, sondern aus der Oppor­tunität von politischen Machtallianzen geleitet wurden. Doch auch von demokratisch gewählten Machthabern ist ausschweifen­des Se­xualverhalten bestens bekannt und weit verbreitet, die Bei­spiele sind zahllos.

Exemplarisch ist der Fall des New Yorker Gou­verneurs Elliot Spitzer, der als Familienvater und als kompromißloser Sauber­mann gegen Kriminalität und Prostitution bekannt war und ertappt wur­de, in Edelhotels mit Frauen Unsummen öf­fentlichen Geldes aus­gegeben zu haben: Sein Schatten hat ihn einge­holt und sei­ne Persona entlarvt.

Ähnlich ist der tiefe Fall des Weltbankpräsi­denten und aus­sichtsreichen Kandidaten für die französi­sche Präsi­dentschaft Strauss-Kahn, dem Sexskandale einer brillan­ten Karrie­re ein Ende setzten. Historisch bedeutungsvoll ist der Fall des my­thischen ame­rikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Mit einer intel­ligenten, sehr attraktiven Frau verheiratet, führte er daneben ein ausschwei­fendes Sexualleben, ohne sich der großen politi­schen Gefahren sei­nes Verhaltens bewußt zu werden. Eine sexuel­le Beziehung mit ei­ner schönen deutschen Frau, die im Ver­dacht geriet mit der DDR-Staatssicherheitsdienst zusammenzuarbeiten, brachte das US-amerikanische FBI schier zur Verzweiflung.

Die Frage ist berechtigt, wie ein solches irrationales Verhalten hochintelligenter Menschen erklärt werden kann. Dies gelingt nur, wenn man seinen Schatten, seine tierische Natur in Erinnerung ruft. Man weiß, daß es in der Tierwelt männliche Leittiere, die Al­phatiere gibt, die bestrebt sind möglichst vielen Nach­kommen ihre Gene weiterzugeben, was der Arterhaltung dienlich ist.

Männer mit Macht als Alphatiere unterliegen demselben unbe­wußten stammesgeschichtlichen instinktiven Drang, möglichst vie­le Nachkommen zu erzeugen, und wirken auf Frauen besonders at­traktiv und begehrenswert. Dieses Phänomen ist somit bei mächti­gen Politikern als eine weit verbreitete natürliche Erscheinung mit einer großen Dunkelziffer zu verstehen.

Bemerkenswert ist auch die Beobachtung, daß ein solches irra­tionales Verhalten in der Öffentlichkeit nur dann zu einem Skandal wird, wenn es politische Gegner im Machtkampf aufgreifen, um den Gegner zu diskreditieren. Hier offenbart sich wieder die Bipo­larität des Menschen, als ein mit Vernunft ausgestattetes, zur Tier­welt gehörendes Wesen.


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Alexander von Wytten­bach: Die Ver­nunft als Unter­tan des Un­bewuss­ten. Be­trach­tungen, her­aus­gegeben und mit einem Ge­leit­wort ver­sehen von Peter A. Rinck.
135 Seiten; €14,90 [DE]
BoD Norderstedt.
ISBN 978-3-7357-4122-6


Inhalt

Vorstellung

Geleitwort
Vorwort

Aphorismen

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14

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