Header


Hinweis für Smartphone-Nutzer: Diese Web­site läßt sich am bes­ten auf einem gro­ßen Bild­schirm be­trach­ten und lesen.

Smartphone users please note: This website is best seen on a big screen.


Peter A. Rinck: Klimatische Kurorte • Abschnitt 2

Der Klimakurort

Rasch erkannten die Anhänger der beiden Schulen jedoch, dass sich ihre Ansichten zur Be­hand­lung der Tu­ber­ku­lo­se nicht gegenseitig ausschlossen, sondern ergänzten, und dass nicht Wär­me oder Käl­te allein die aus­schlag­ge­ben­den Mo­men­te für die Auswahl eines klimatischen Kur­or­tes sein konnten. Auf einen Nenner brach­te dies 1879 Josef Schreiber mit der Fest­stel­lung:

»Die beiden Extreme, d.I. hohe Wärmegrade … sowie sehr niedrige Temperatu­ren ver­ei­teln den Haupt­zweck der klimatischen Cur: Mög­lichst ausgedehnten Aufenthalt in der fri­schen Luft.«

Reimer wies 1881 in seinem Handbuch über klimatische Winterkurorte auf die folgenden fünf Ge­sichts­punk­te hin, die nach seiner Ansicht als die wich­tig­sten Größen bei der Be­ur­tei­lung ei­nes Platzes be­rück­sich­tigt werden mussten, der als klimatischer Kurort in Betracht zu kom­men schien:

die Temperaturen am Ort;
die Luftbewegungen;
der Luftdruck;
die Luftfeuchtigkeit;
die Niederschläge.

Reimers streng naturwissenschaftlich ausgelegter Beschreibung steht die von E. Preller in der All­ge­mei­nen En­cy­klo­pä­die der Wissenschaften und Künste aus dem Jahre 1885 gegenüber, eine eher po­pu­lär­wis­sen­schaft­lich-me­di­zi­ni­­sche Definition des Begriffes Klimakurort:

»Klimatische Curorte sind Orte, deren Klima eine heilsame Einwirkung auf den mensch­li­chen Or­ga­nis­mus äußert, auf den gesunden durch Kräftigung dessel­ben und Fern­hal­tung von Schäd­lich­kei­ten, auf den kranken durch den direc­ten Einfluß auf bestehende Lei­den aller Art, auf den krank gewesen oder geschwächten Organismus durch be­le­ben­de und re­stau­riren­de Einflüsse.«

Dass allerdings das Klima allein nicht die Voraussetzung für einen kli­ma­ti­schen Kur­ort aus­ma­chen kann, hatte Rudolph von Vivenot bereits 1896 festgestellt. Er erhob in einer aus­führ­li­chen Darstellung Palermos als kli­ma­ti­scher Kur­ort zwei generelle Punkte zu den Vor­be­din­gun­gen für einen der­ar­ti­gen Ort:

Hauptbedingung bildeten natürlich günstige klimatische Verhältnisse, hinzu kam eine zwei­te Conditio-sine-qua-non, die er als die »socialen Ver­hält­nisse« umschrieb, diejenigen ein­hei­mi­schen Voraussetzungen also, die man heute ge­meinhin als »lokale Infrastruktur« be­zeich­net. Hierzu gehören günstige An­rei­se­mög­lich­kei­ten, bequeme Unterkünfte am Ort, eine gute me­di­zi­ni­sche Versorgung der Kurgäste und Mög­lich­kei­ten zur Zerstreuung und Un­ter­hal­tung der Kurgäste am Ort ihrer Erholung.

Vivenots Definition kommt der heute noch gültigen des Eidgenössischen Ge­sundheitsamtes aus dem Jah­re 1957 sehr viel näher als die rein meteorolo­gisch, klimatologisch oder me­di­zi­ni­sch ausgerichteten Ein­gren­zun­gen des Be­griffes während der zweiten Hälfte des neun­zehn­ten Jahrhunderts. Die folgen­den Vor­aus­setz­un­gen fußen auf den Erkenntnissen, die während des neun­zehnten und der ersten Hälfte des zwan­zig­sten Jahr­hun­derts in der Kur­ort­kli­ma­for­schung und der medizinischen Klimatologie gewonnen wur­den. Sie besa­ßen damals wie heute die gleiche Gültigkeit:

1. Klimakurorte im Sinne dieser Definition sind Ortschaften, Teile von solchen und unter ge­wis­sen Vor­aus­setz­un­gen einzelne Kuranstalten, die ein Klima mit Heilfaktoren be­sitzen.

Diese Faktoren müssen geeignet sein, eine Umstimmung des mensch­li­chen Organismus zu bewirken und da­durch eine Krankheit oder eine Disposition zur Erkrankung so zu be­ein­flus­sen oder die Erholung und Kräf­ti­gung des Organis­mus derart zu fördern, daß eine Wie­der­her­stel­lung oder Besserung von Ge­­sund­heit, Leistungs- und Ar­beits­fä­hig­keit er­war­tet werden kann.

Als klimatische Heilfaktoren kommen in Betracht:

Reizfaktoren, wie Höhenlage, reichliche Besonnung und intensive Strahlung, oder Schon­fak­to­ren, wie Schutz vor stärken Winden, ge­mäßig­te und ausgeglichene Ab­küh­lungs­grö­ße, relative Stabilität der Wit­te­rung oder eine Kombination von Rei­z- und Schon­fak­to­ren. Un­gün­sti­ge Klimafaktoren, wie zum Bei­spiel Nebel und hohe Ab­küh­lungs­grö­ße dür­fen nur selten und nur in einem solchen Maße auftreten, daß der Kur­er­folg dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt wird. Dasselbe gilt in Bezug auf schädliche Aus­wir­kun­gen von Industrie und Verkehr oder andere störende Einflüsse.

2. ...

3. An den Klimakurorten muß qualifizierte ärztliche Versorgung gesichert sein, und es müs­sen me­di­zi­ni­sche Ein­rich­tun­­gen für die Untersuchung und Behandlung von Kranken zur Verfügung stehen.

4. An Klimakurorten müssen außerdem folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
a) gut eingerichtete und einwandfrei geführte Kurhäuser oder Hotels mit ent­­spre­chen­dem Personal und Möglichkeiten für Spezialdiät;
b) einwandfreie Trinkwasserversorgung und Abfallbeseitigung. Für eine wirk­same Be­kämp­fung der Lärm-, Rauch-, Staub- und Insektenplage muß, sofern notwendig, eben­falls gesorgt sein;
c) geeignete Spazierwege und Gelegenheit zu einem den Kuren ange­passten Training.


Entstehung von Klimakurorten in Europa

Nach diesen Definitionen war es vielen Orten nicht mehr möglich, sich als »kli­­ma­ti­sche Kur­orte« zu be­zeich­nen, während andere den Sprung vom Bauern- o­der Fischerdorf zum offiziell anerkannten Kurort un­ter­nah­men.

So kristallisierten sich neben Madeira im Laufe der Jahre in Mittel- und Südeuro­pa fol­gen­de Orte als in­ter­na­tio­na­le Haupt­an­zie­hungs­punk­te heraus:

Wiesba­den und Baden-Baden im Deutschen Reich,
die Winter- und Übergangskurorte Meran, Gries, Arco in Österreich-Ungarn,
daneben der Comer See mit der Tremezzina in Italien, Lugano, Mon­treux, Vevey und Bex an den süd­li­chen Abhängen und am südli­chen Fuß der Mittelalpen,
Pau und Biarritz im westlichen Frankreich,
die beiden Rivieren und Südfrankreich mit Cannes, Antibes, Hyères, Nizza, Monaco, Men­tone, Bordighera und San Remo.

Dazu kamen einige Orte an der spanischen Mittelmeerküste, das öster­rei­chi­­sche und ita­li­e­ni­sche Küs­ten­land mit Venedig und Görz, und weiter im Süden Ajaccio auf Korsika und die Städte Palermo und Catania auf Sizilien.

Als Höhenkurorte standen Tuberkulosepatienten Davos und Sankt Moritz zur Verfügung.

Die ersten Kurorte in der Schweiz, die internationalen Zuspruch fanden, waren diejenigen am Genfer See. Sie waren aus Skandinavien, Deutschland, Eng­land, Frankreich und Italien gut erreichbar, besaßen ein aus­ge­gli­che­nes und angenehmes Klima und waren politisch ruhig sowie kulturell attraktiv. Später gesellten sich Höhenkurorte in Graubünden und die vorerst als Über­gangs­sta­tionen für Reisen in den Süden Europas be­trach­te­ten Ortschaften im Kanton Tessin hinzu. Im Jahre 1876 zählte man in der Schweiz bereits 72 Heil­bä­der und 104 Mol­ken-, Trauben- und Luftkurorte.

Die Anforderungen für die Gestaltung und den Ausbau der kli­ma­ti­schen Kur­orte waren hoch, aber das Gros der Schweizer Orte, die sich als kli­ma­ti­sche Kur­orte prädestiniert fühl­ten, schaffte es rasch die ge­stell­ten Be­din­gun­gen zu erfüllen, so dass sich die Schweiz schnell in­ter­na­tio­nal mit ihren Kurorten an die Spit­ze schob und der Entwicklung im Ausland weit voraus war. Es gelang dem Land besonders mit seinen gro­ßen Tu­ber­ku­lo­se­heil­stät­ten über sechzig Jahre hin eine Monopolstellung in Europa zu halten, die end­gül­tig erst während des Zweiten Weltkrieges beseitigt wurde.


Die Entwicklung der medizinischen Klimatologie

Im Laufe dieser Zeitspanne, etwa zwischen 1850 und 1910, wuchsen auch die Kenntnisse in der me­di­zi­ni­schen Klimatologie beträchtlich. Dieses Grenzgebiet zwischen der Meteorologie und der Inneren Medizin mußte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts auf die wenigen bereits vor­han­de­nen Daten aus der Me­te­o­ro­lo­gie auf der einen Seite und auf medi­zi­ni­sche Spe­­ku­la­tionen und persönliche Erfahrungen einzelner Ärzte auf der an­de­ren Seite ver­lassen.

Noch im Jahre 1868 wies der Berliner Arzt Dr. Helfft, der sich ausführlich mit bio­klima­to­lo­gischen Fragen beschäftigte, darauf hin, dass vielen kli­ma­ti­schen Kur­or­ten meteorologische Beobachtungen über eine Rei­he von Jah­ren hintereinander ohne Unterbrechung fehlten und dass so­mit eine In­di­ka­tions­stellung zur Be­hand­lung bestimmter Krankheiten für diese Ort­schaf­ten noch nicht in allen Fällen möglich sei.

Derartige Beobachtungen erfolgten während des 17. und 18. Jahrhunderts größtenteils unkoordiniert von einzelnen daran In­teressierten, mit In­stru­men­ten, die nicht aufeinander abgestimmt waren und mit un­ter­schied­li­chen Grad­ein­tei­lungen, die sich nicht miteinander ver­glei­chen lie­ßen. Erst im neunzehnten Jahr­hun­dert richteten viele europäische Staaten ei­gene Wetterstationen ein.

Die erste staatliche Unterstützung für Meteorologen gewährte in der Schweiz der Kanton Tes­sin; als ers­ter Kanton der Eidgenossenschaft be­wil­lig­te er 1843 die Mittel für die Er­rich­tung eines Netzes me­teo­ro­lo­gi­scher Stationen. Im De­zember 1863 und Januar 1864 folgte die Gründung der Meteorologischen Zen­tral­an­stalt in Zürich, die an mehr als 80 Standorten auf dem Gebiet der Eid­genossenschaft meteorologische Sta­ti­o­nen ein­rich­te­te und unterhielt; hier er­folgten mehrmals täglich Messungen, die nach Zürich gemeldet wurden.

Im Kanton Tessin wurde die erste offizielle Beobachtungsstation im Jahre 1864 in Lugano eröffnet, in dem­selben Jahr folgte die Gründung einer Beob­achtungsstation in Bellinzona; 1876 wurde eine Station in Lo­car­no-Monti einge­richtet und 1892 eine weitere auf dem Monte Generoso bei Lugano.

Unter anderem waren folgende Stationen im Kanton Tessin in Betrieb: Airolo (seit 1876), Bel­lin­zo­na (seit 1864), Comprovasco (seit 1892), Monte Generoso (auf 1224 m über dem Mee­res­spi­egel seit 1869, auf 1610 m Höhe seit 1892), Locarno (seit 1864), Rivera-Bironico (seit 1885) und San Vittore (seit 1868). Zu diesen Stationen gesellten sich auf der ita­li­e­ni­schen Sei­te der Grenze dieje­nigen von Como, Villa Carlotta (Comer See), Luino-Canobbio und Pal­lan­za.

Bereits 1770 hatte der Pfarrer Rudolf Schinz Wetterbeobachtungen und Tem­­pe­ra­tur­ver­glei­che zwischen der Südschweiz und der Nordschweiz an­ge­stellt. Er setzte den Temperaturen in Zürich die gleichzeitig ge­mes­se­nen Werte von Locarno gegenüber. Allerdings sind seine An­ga­ben ungenau und wegen der verwandten In­stru­men­te und Maß­ein­hei­ten schlecht nach­voll­zieh­bar.


Zusammenschluß der Klimatologen

Die medizinischen Klimatologen und Balneologen benötigten eine etwas länge­re Zeit als die Meteorologen, um ihre Kenntnisse zu erweitern und schließlich auch zusammenzutragen. Sie gründeten zur Koordination des medizinischen Ausbaus der Kurorte in der Schweiz im Jahre 1900 die Schwei­ze­ri­sche Bal­neo­­lo­gi­sche Ge­sell­schaft, mit dem Ziel, die Ärzte­schaft und Er­krank­te über die Kurorte der Schweiz und deren An­wen­dung bei Erkrankungen aufzuklären.

Sehr bedeutsam für den weiteren Gang der schweizerischen Kur­ort­klima­for­­schung war die Gründung des phy­si­ka­lisch-me­t­eoro­lo­gi­schen Ob­ser­va­to­rium in Davos durch Karl Dorno (1865-1942). Sein Institut wurde 1922 mit dem Institut für Hochgebirgsphysiologie und Tu­­ber­ku­lo­se­for­schung zu­sam­men­ge­legt.


Figure07

Abbildung 7:
Übersichtsbücher zur medizinischen Klimatologie und klimatischen Kurorten zuerst bri­ti­scher Autoren, dann auch deut­scher folgten den Reisebüchern des späten acht­zehnten und frühen neun­­zehn­ten Jahrhunderts. Mitte des neun­zehn­ten Jahrhunderts erschienen die ersten Bücher über klimatische Kur­orte, meist über Winterkurorte, wo man den har­schen Monaten des Nordens entgehen konnte.

Bei der Gründung der Schweizerischen Balneologischen Gesellschaft be­ton­te der Ini­tia­tor des Un­ter­neh­mens, Dr. H. Keller, unter anderem einen Wunsch und ein Ziel, das ihm besonders am Herzen lag: Er war da­von über­zeugt, dass die klimatischen Kurorte nicht nur, wie bislang geschehen, le­dig­lich den bemittelten Krei­sen, die ihren Aufenthalt und ihre Kur aus der eigenen Tasche finanzie­ren konnten, sondern dem gan­zen Schweizer Volk und auch weiteren Schichten im Ausland zur Verfügung stehen müssten — eine The­se, die in diesen Jahren noch als revolutionär galt, denn es fand sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand, der die Kosten hierfür über­nom­men hätte.


  Go to top

TurnPrevPage TurnNextPage