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Peter A. Rinck
Medizinische Klimatologie
das Beispiel der klimatischen Kurorte im Oberitalienischen Seengebiet

Einleitung

eit mehr als andert­halb Jahr­hun­der­ten, zu­neh­mend nach dem Ersten und be­sonders nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Trend zum Erholungsurlaub und zur Kur zu­ge­nom­men. Die Gründe hierfür liegen auf der einen Seite in der Wandlung der Ar­beits- und Le­bens­ge­wohn­hei­ten der Bevölkerung in den In­dustrie­staaten wäh­rend der letzten zwei Jahr­hun­der­te und der hier­aus folgen­den Änderung der Be­völ­ke­rungs­struk­tur mit dem Über­gang des Pro­le­ta­riats in eine wohl­versorgte Mittel­schicht.

Der wachsende Wohlstand breiter Gruppen in der Bevölkerung erlaubte eine Stärkung der prä­ven­ti­ven und der nachbehandelnden Medizin. Auf der anderen Seite schritten die Medizin und die ihr nahestehenden Wissenschaften während dieser Zeit rasch in ihrer Entwicklung vor­an, neue Er­kenntnisse gewannen in allen Disziplinen Raum, und so erhielt auch die Idee der Erholung und Wiedererlangung der körperlichen und gei­sti­gen Leistungsfä­higkeit durch den Aufenthalt an ausgewählten, klimatisch bevorzugten Or­ten als »Me­di­zi­ni­sche Kli­ma­to­lo­gie« ihren Platz in der Reihe der medizinischen Diszi­plinen.

Allein in Deutschland existieren heute (mindestens) 47 heilklimatische Kurorte neben rund 200 weiteren Kur­ein­rich­tun­gen wie Mineralquellen, Thermal- und Seebä­dern — wobei mit die­sen Bezeichnungen na­tür­lich auch Schind­lu­der ge­trie­ben werden kann. In der Schweiz wa­ren 1961 vom Eid­ge­nös­si­schen Ge­sund­heits­amt und der Schweizerischen Vereinigung der Kli­ma­kur­orte 42 Ortschaften als heil­klima­­tische Kurorte of­fi­ziell anerkannt. In diesem Zu­sam­men­hang bedeutet heil­kli­matischer Kurort nicht dasselbe wie Fe­rien­ort oder die al­ter­tüm­li­che Sommerfri­sche. Das eine schließt zwar das andere nicht aus, beim heil­kli­ma­tischen Kur­ort müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein.

Dieser Essay beschäftigt sich mit der Ent­ste­hung und En­twick­lung der me­di­zi­­ni­schen Kli­ma­to­lo­gie am Beispiel des westlichen ober­ita­li­eni­schen Seen­ge­bie­­tes, das sich bis tief in die Schweiz erstreckt. Er gibt einen kurzen Ein­blick in die, nicht nur me­di­zi­ni­sche, Ge­schich­te und regt vielleicht auch zu ein paar Rück­schlüs­sen aus der heutigen Warte an.

Nicht alles, was heute oft mit einem Lächeln ab­ge­tan wird, muß unbedingt schlecht oder un­wirk­sam für einen Patienten sein; die die Me­di­zin be­herr­­schen­den Tech­no­lo­gien haben zwar viele Er­leich­te­run­gen in Diagnostik und The­ra­pie gebracht, aber letztendlich sind we­der die Klimatologie noch die Me­di­zin exakte Wis­sen­schaf­ten, und Wohl­befinden (neu­deutsch »Well­ness«) und Re­kon­va­les­zenz von Pa­ti­en­ten werden von vielen äußeren Faktoren be­stimmt. Das Klima und der Aufenthalt in einer angenehmen Umgebung sind zwei von ihnen.


Vorbilder in der Antike

Den Gedanken, daß ein Klimawechsel sich positiv auf die Gesundheit eines Kranken aus­wir­ken könnte, hatten bereits antike Mediziner. Aretaios, der Kap­padozier (um 50 n. Chr.), riet zum Beispiel zur Be­hand­lung der Phthisis (Schwindsucht, Lungentuberkulose):

»Wenn es die Umstände des Kranken erlauben, so mag er auf dem Meer um­herfahren, und da sein Leben zubringen, denn das salzige Meeres­was­ser hat einen trocknenden Ein­fluß auf die Geschwüre.«


Figure01-02

Abbildung 1 (links):
Aretaios (etwa 80–131 n. Chr.) schrieb ein zweibändiges Kom­pen­dium der Heil­kun­de mit Krank­heits­schil­derun­gen, unter anderem der Lepra, Lun­gen­­schwind­sucht und des Tetanus.
Abbildung 2 (rechts):
Galen (etwa 129–200 n. Chr.). Vor allem seine Ver­öffent­li­chun­gen zur Ana­tomie waren die Haupt­stütze mit­tel­alter­licher Medizin­lehre. Erst 1400 Jahre nach sei­nem Tode veränderten die Einflüsse von Andreas Vesalius die Lehre der Anato­mie.

Wenig später meinte er bei der Besprechung der Therapie des hartnäckigen Kopfschmerzes, den er als Ce­pha­laea bezeichnete:

»Reisen aus kalten Gegenden in warme und aus feuchten in trockene bekom­men gut.«

Zu den ersten Griechen, die mit der in der Heimat erlernten Medizin in Rom ihr Glück zu ma­chen ver­such­ten, gehörte Asklepiades. Er war ein Ver­fech­ter des­sen, was man heute als phy­si­ka­lisch-diäte­ti­sche The­ra­pie be­zeich­net: Wasser­kuren, Massagen, genau geregelte aktive Kör­per­be­we­gung, Spa­zier­gän­ge, Gym­nas­tik — und Luftveränderung.

Galen übernahm einen Teil der Lehre von Asklepiades. So schilderte er in seinen Methodi medendi die La­rynx­er­kran­kung eines jungen Mannes aus Rom, wahrscheinlich eine Kehl­kopf­tu­ber­ku­lo­se, die sich bei ei­nem Auf­ent­halt in Tabiae, einem Ort zwischen Neapel und Sorrent in der Nähe des Gol­fes von Neapel, bes­ser­te. Wie Asklepiades ließ sich Galen keinen na­tür­li­chen Heil­fak­tor entgehen. Schwindsüchtige schickte er zum Beispiel nach Ägypten oder in Höhen­luft­kur­­orte.

Im Vordergrund standen jedoch während des Altertums, des Mittelalters und der frühen Neu­zeit die Ba­de­ku­ren in Thermal- und Mineralquellen. Sie wurden im 17. und 18. Jahr­hun­dert durch die Trinkkuren aus ih­rer füh­ren­den Rolle ver­drängt, und wenig später trat dann der Aufenthalt von Kran­ken in klimatisch be­­gün­stig­ten Re­gi­onen als weitere Methode der The­ra­pie und Kur hinzu.


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Abbildung 3:
Das Thermalbad in Leuk (Leukerbad) war das beliebteste Bad in der Schweiz im acht­zehn­ten Jahrhundert (Gemälde eines unbekannten Malers um 1780).

Neue Impulse

Als das zu dieser Zeit am weitesten handelstreibende und somit überall in der Welt an­zu­tref­fen­de Volk grif­fen die Engländer die Idee des Kli­ma­wech­sels als Therapeutikum bei Krank­hei­ten, die auf andere Weise nicht an­ge­gan­gen und beherrscht werden konnten, von neuem auf.

Obwohl zu dieser Zeit die Reiselust und der Drang nach Süden andere Völ­ker im Norden Europas auch überkam, waren die Briten lange Zeit sowohl experi­mentell als auch in der Theorie führend auf den Ge­bie­ten der Kli­ma­to­lo­gie und Kur­ort­klima­forschung. Im Laufe der ersten Jahrzehnte des neun­zehn­ten Jahr­­hun­derts übernahmen die Franzosen diese Ideen eben­falls und trugen viel Ma­terial zum Ausbau der neuen Dis­zi­pli­nen zusammen, vor allem da Süd­frank­reich zu den herausragenden Reisezielen für heil­kli­ma­ti­sche Kur­auf­ent­halte zählte.

»Les médecins ne peuvent plus maintenant se borner à l’étude des maladies: ils doivent aussi étudier les climats et connaître spéciale­ment ceux qui sont capables de modifier un état pathologique de quel­que nature qu’il soit.«

»Ärzte können sich jetzt nicht mehr nur auf das Studium von Krankheiten beschränken, sondern müs­sen auch die Klimata studieren und besonders diejenigen kennen, die in der Lage sind, einen wie auch im­mer gearteten Krankheitszustand zu verändern.«

Unterstützt wurde dies durch die klinischen und pathologischen Be­schrei­bun­­gen des fran­zö­si­schen Arztes René-Théophile-Hyacinthe Laennec (1781-1826), dem Erfinder des Stethoskops, die dieser über die Lun­gen­tu­ber­ku­lose und andere Erkrankungen des Brustraumes lieferte.

Figure01-04

Abbildung 4:
René-Théophile-Hyacinthe Laennec (1781-1826).

Tuberkulose — der Anstoß zur Klimakur

Tuberkulöse Patienten bildeten zu dieser Zeit den Hauptanteil unter den chro­nisch Kranken, für den es kaum eine Hilfe gab. Die Tuberkulose war vom frü­hen Industrie­zeit­alter an wie heu­te in den Entwicklungs- und zu­neh­mend auch wieder in den »entwickelten« Ländern die her­aus­ra­gen­de und eine der be­droh­­lich­sten Erkrankungen.

Die Anschauungen zur Entstehung und Bekämpfung dieser Krankheit waren selbst unter den Ärzten, die sich ausschließlich mit ihr beschäftigten, sehr un­terschiedlich und um­strit­ten. Noch wußte niemand mit end­gül­ti­ger Sicher­heit, wodurch sie ausgelöst wurde. Hun­der­te von antituberkulösen Mitteln wurden an­ge­bo­ten, angefangen bei Hustenbonbons, über Zu­cker bis zum Morphium. Nach der Meinung des in Ma­dei­ra tätigen deutschen Arztes Dr. Ru­dolf Schultze bildeten die Phthisiker mindestens fünfundzwanzig Prozent der Kundschaft der Apo­the­ker. Die Entstehung der Tuberkulose werde durch vielfältige Fak­to­ren unter­stützt. Be­son­ders wies er auf folgendes hin, was in seiner Abhandlung über die Insel Madeira ge­sperrt ge­druckt im ersten Kapitel zu lesen ist:

»Jede über­an­stren­gen­de Geistes­be­schäf­ti­gung, besonders nächtliches Studi­ren, ist der her­an­wach­sen­den Jugend streng zu untersagen.«

Alle waren sich jedoch darüber einig, dass der Aufenthalt an frischer und saube­rer Luft und eine »gesunde Lebensweise« nur von Nutzen bei der Hei­lung der Krankheit sein könnte.

Der Baden-Badener Arzt Biermann umriss in einem allgemein gehaltenen Werk über kli­ma­ti­sche Kurorte und ihre Indikationen einen klimatischen Kurort als ein »aus vielen ver­schie­de­nen Bestand­theilen zu­sam­men­ge­setz­tes Medicament.« Schultze fasste in seiner Broschüre über Madeira die Be­hand­lungs­mög­lich­kei­ten der Tuberkulose mit folgende Worten zu­sam­men:

»Fast alle wissen­schaftlichen Ärzte der Jetztzeit anerkennen, daß die Heilung der Tu­ber­ku­lo­se nicht aus der Apotheke, sondern aus der At­mo­s­phäre kommt. Unsere ganze ma­te­ria medica für diese fürch­ter­liche Seuche besteht in einer reinen, frischen Luft, wel­che beständig durch Strömungen in sich er­neu­ert wird.«

Während der frühen Zeit der klimatischen Kuren herrschte über­ein­stimmend die Auffassung vor, dass allein ein warmes und mildes Klima einem an Lungen­schwindsucht Erkrankten hel­fen könne, sich von dieser Er­kran­kung zu befrei­en.

»Mild nennen wir allgemein dasjenige Klima, wo der Organismus nur eines ge­ringen Kraft­auf­wandes be­darf, um Wetter und äußere Vor­gänge zu ertragen. Je milder das Kli­ma, um so besser für den Kran­ken.«

So galt die im Atlantik vor der Nordwestküste Afrikas gelegene por­tu­gie­sische Insel Madeira mit ihrem reiz­frei­en, warmen Klima in den ersten vier Jahr­zehn­­ten des neunzehnten Jahr­hun­derts als der klimatische Kur­ort. Die Insel war als wichtige Zwischenstation für die See­schiffahrt von 1807 bis 1814 in englischer Hand und wurde in erster Linie auch von englischen Pa­ti­en­ten aufgesucht. Für viele Tuberkulöse brachte der Aufenthalt auf Madeira eine Bes­se­rung oder zumindest keine weitere Verschlimmerung ihres Lei­dens, doch einige Fälle von Schwind­sucht verliefen dort entschieden un­gün­stiger, als man es vorher erwartet hatte. Als Re­ak­tion auf diesen un­er­war­te­ten Ausgang der Kuren bildete sich eine zweite Schule, die eine ent­ge­gen­ge­setz­te Lehr­mei­nung vertrat, und Kälte und Rauheit des Klimas als Heilmittel ge­gen die Tu­ber­ku­lo­se predigte.


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Abbildung 5:
"If I must go abroad and forego the pleasures of home, it is better to go to Ma­deira, re­sort­ing at once to the most advantageous climate, than to adopt the half measures of going to Italy, Jersey, or the south of England." Andrew Combe zitiert von Dr. Rudolf Schultze in seiner Abhandlung über die Insel Ma­deira: »Aufenthalt der Kranken und Heilung der Tuberkulose daselbst.« Elisabeth von Österreich-Ungarn, Sisi, be­gab sich im Herbst 1860 nach Madeira und verbrachte dort den Winter; ihr Lungenleiden besserte sich.


Am 24. März 1882 hielt Robert Koch im Physiologischen Institut der Berliner Universität sei­nen be­rühmt ge­wor­de­nen Vortrag »Über Tuberculose«.

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Abbildung 6:
Am Ende seines Vortrages faßte Robert Koch seine Forschungen zu­sammen: »Und alle diese Tatsachen zu­sam­men­ge­nom­men, berechtigen zu dem Ausspruch, daß die in den tuberku­lösen Substanzen vorkommenden Bazillen nicht nur Begleiter des tu­ber­ku­lö­sen Prozesses, sondern die Ursachen desselben sind, und daß wir in den Bazillen das ei­gent­liche Tuberkelvirus vor uns haben …«
Allerdings sollten bis zur möglichen Heilung der Krank­heit durch Antibiotika noch mehr als sechzig Jahre vergehen.


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