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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 7

Ein Blick nach Amerika

Rüya wußte, daß Galip ihre Kriminalromane nicht ertragen konnte …
Er verabscheute diese Welt, in der die Engländer Parodien der Engländer waren
und niemand fett war, es sei denn ungeheuer fett;
die Mörder waren so künstlich wie ihre Opfer und dienten nur als Hinweise in einem Puzzle …

Orhan Pamuk. Kara Kitap (Das schwarze Buch). Istanbul. 1990.


n der Zwischenzeit tauchten in den Vereinigten Staaten American-size über­di­­men­sio­nale, ex­zen­tri­sche Detekti­ve auf, so der in Montenegro geborene Nero Wolfe. Das erste Buch mit diesem Detektiv erschien 1934, der Autor war Rex Stout. Er schrieb bis 1975 33 Romane und 41 Kurzgeschich­ten, wovon die meisten in New York spielen.

Nach eigenen Aussagen wiegt Nero Wolfe ungefähr eine Siebenteltonne. Er ist Gourmet und Gourmand und beschäft­igt einen deutschen Koch namens Fritz Brenner. Sein Hobby, dem er sich mehr hingibt als der Aufklärung von Morden, ist die Orchideenzucht. Im obersten Stockwerk seines Hauses in der 35th Street West hat er ein Gewächshaus er­rich­ten lassen, in dem er zu­sammen mit dem italienischen Gärtner Theodore über zwan­zig­tau­send Orchideen ge­sammelt und ge­züchtet hat.

Da sich Wolfe aus verständlichen Gründen äußerst un­gern bewegt, geschwei­ge denn aus dem Haus oder auf Reisen geht, muß sein Assistent, Archie Good­win, alle Aufgaben übernehmen, die außerhalb des Hauses abzu­wickeln oder mit Bewegung verbunden sind, die Wolfe über­mäßig er­scheint.

Archie hinge­gen nennt dies „Wolfes angeborene Faulheit“ und versucht, ihn auf alle mögli­chen Arten zum Arbeiten zu bewegen.

spaceholder red  „Ich weiß, daß Sie im Moment nicht auf Arbeit erpicht sind. Sie haben ge­nug Mo­ne­ten auf dem Konto, um ein paar Monate lang unsere Gehälter zu zahlen und dazu Schwei­­ne­fleisch gleich in ganzen Wa­gen­la­dun­gen zu kau­fen. Der Zaster reicht auch noch für ein paar neue Orchideen. Okay. Ich will sogar zugeben, daß ein Pri­vat­de­tek­tiv das Recht hat, einen Fall zu­rückzuweisen, wenn er ihm nicht in den Kram passt.“

Archies Alter scheint mit etwa 35 Jahren eingefroren wor­den zu sein. Er ist „Watson“ — wenn auch in einem neuen Gewand und mehr oder minder gezwunge­nermaßen, da Wolfe durch seine Leibesfülle gehandikapt ist. In die artige Welt des Sherlock Holmes bringt er Leben. Sein Zynismus, mit der er Polizei­inspektor Cramer von der Neuyorker Dis­trikts­­polizei vor den Kopf zu stoßen pflegt, und seine Versuche, mit jungen Damen an­zu­bän­deln, was letzten Endes jedoch nie klappt, lassen den Leser immer wieder schmun­zeln.

Archie Goodwin ist zwar wie Dr. Watson der Erzähler; er schildert die Erlebnis­se Nero Wolfes von seiner Warte aus. Verglichen mit Watson ist er aber ein wahrer Geistes­riese. Wenn auch Wolfe als Hauptperson einen Mörder zuerst durchschaut, so hinkt Archie doch nicht weit hin­terher. Dr. Watson ist für Hol­mes ein Medium, dem er sei­ne Er­geb­nis­se mitteilen kann. Archie Goodwin und Nero Wolfe ergänzen sich zu einem Ganzen und gehören un­zertrennlich zu­sammen.

Wolfes Aufklärungsmethoden ähneln denen der Polizei, nur ist er nicht so stark ein­ge­schränkt wie Inspektor Cra­mer. So ist die Schilderung der Polizisten nicht abwer­tend, Pri­­vat­de­tek­tiv und staatliche Polizei stehen bei Stout in der Einschätzung auf einer Stufe. Cramer und Wolfe behandeln sich ab und zu so­gar wie zwei gute Freunde; Wolfe lädt Cra­mer zum Essen ein. Lediglich wenn beide einen Fall bear­beiten und Wolfe seine Klien­ten schützen will, sind sie wie Katz und Maus.

spaceholder red  „Hören Sie auf, mir die Worte im Munde herumzudre­hen!“ röhrte Inspektor Cra­mer. „Ich habe Sie nicht der Mittä­terschaft beschuldigt! Ich habe lediglich ge­sagt, daß Sie mit etwas hinter dem Berge halten. Warum regen Sie sich dar­über auf? Sie ver­heim­li­chen doch immer was!“

Um sich die notwendigen Informationen zu verschaffen, beschäftigt Wolfe außer Ar­chie, der hauptberuflich für ihn tätig ist, gelegentlich nebenbei eine An­zahl von Pri­vat­de­tek­t­i­ven, von denen Saul Panzer der beste und höchstbezahlt­este ist.

Die Bezahlung spielt bei Wolfe eine große Rolle. Die meisten Detektive vor ihm be­trie­ben ihre Arbeit als Frei­zeitbeschäftigung. Sie hatten entweder von Hause aus Geld oder gingen einem Beruf nach, der sie ernähren konnte. Wolfe lebt davon, daß er an­de­ren Leuten aus ei­ner Verlegen­heit hilft, in der sie ver­schuldet oder unver­schuldet stecken.

spaceholder red  “Ich bin kein Polizist. Ich bin Privatdetektiv. Ich spüre Verbrecher auf. Ich sammle Be­weis­ma­te­rial gegen sie. Ich sorge dafür, daß sie ins Gefängnis kom­men oder einen Kopf kürzer gemacht werden. Aber alles nur gegen Bezah­lung!”

Ein Gesetz der Mystery Writers of America — einer Verei­nigung, die etwa dem eng­li­schen Detection Club ent­pricht — lautet, daß sich Verbrechen niemals bezahlt ma­chen darf. So übergibt Wolfe — der sich selbst bei seinen Ermittlun­gen nicht immer legal ver­hält — den Verbrecher schließlich aus­nahmslos der Polizei, obwohl er manchmal ver­steck­tes Ver­­ständ­nis für einen Mord zeigt.

Im großen und ganzen betrachtet, ist Nero Wolfe eine sympathische Person, viel an­zie­hen­der als Dupin, Hol­mes oder Thorndyke, weil er ein Mensch ist, der einem be­geg­nen könnte. Er hat seine Schwächen, und er hat sei­ne Stärken. Wenn auch für den Leser dadurch, daß Archie Goodwin er­zählt, viele von Wolfes Schlüssen und Hand­lungen un­ver­­ständ­lich sind, weil er Wolfes Gedankengäng­e nicht verfol­gen kann, fühlt er sich dennoch nie ausge­stoßen oder be­nachteiligt, da er von Wolfes Eigenarten und seiner Über­le­­gen­heit den am Verbrechen Beteiligten gegenüber und von dem leicht verrückten — im positiven Sinne dieses Wortes — Archie Goodwin angezogen und gefesselt wird.

Nero Wolfe ist ein ausgesprochener Privatdetektiv; Perry Mason, der Held von Erle Stan­ley Gardner (1889-1970), ist Rechtsanwalt, der nebenher privat ermittelt. Der Au­tor hatte Jura studiert, dann entschloß er sich, Schriftsteller zu wer­den. Gardner teilt seine juristischen Kenntnisse mit seinem Detektiv, so daß der interessante Teil in den Ro­­ma­nen mit Perry Mason die Auseinandersetzungen mit dem Staatsan­walt des Bezirkes (district attorney) Hamil­ton Burger sind. Die Kreuzverhöre fesseln oftmals mehr als die Ermittlungs­arbeit, die teilweise nicht einmal von Mason selbst, sondern von dem dafür angeheuerten De­tektiv Paul Drake gemacht wird. Es sind diese Verhöre, die Perry Mason be­rühmt gemacht haben.

spaceholder red  „Dr. Boland C. Dawes,” sagte Drew (der Staatsanwalt, der anstelle von Hamilton Bur­ger diesen Fall bearbeitete), „Wil­liam Harper Anson ist inzwischen verstorben?“

 „Ja.“

 „Wo starb er?“

 „Im Nixon-Memorial-Krankenhaus.“

 „Was war die Todesursache?“

 „Arsenvergiftung.“

 „Wann sahen Sie die Leiche zum letzten Mal?“

 „Ungefähr vierundzwanzig Stunden, nachdem sie exhu­miert worden war.“

 „Nahmen Sie zu diesem Zeitpunkt zusammen mit einem anderen Arzt eine Ob­duk­tion vor?“

 „Ja, ich arbeitete mit dem Amtsarzt zusammen.“

 „Haben Sie eine Ahnung, wie lange vor dem Tode das Gift verabreicht wurde?“

 „Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen und nach der Krank­heits­ge­­schich­te, wie sie mir bekannt ist, würde ich sage, daß das Gift etwa zwanzig Stunden vor dem Tode ein­­ge­nom­men wurde.“

 „Wissen Sie, wo William Anson sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt?“

 „Das weiß ich von dem Patienten selbst, der es mir damals erzählte.“

 „Ihr Zeuge,“ sagte Drew zu Mason.

 Mason wandte sich an den Arzt. „Sind Sie ganz sicher, daß der Tod durch Ar­sen­ver­gif­tung herbeigeführt wurde?“

 „Ja.“

 „Sie behandelten den Toten während seiner letzten Krank­heit und stellten einen Totenschein aus?“

 „Das ist richtig.“

 „Und in diesem To­ten­schein erklärten Sie, der Tod wäre infolge einer Le­­bens­mit­tel­ver­gif­tung eingetreten, die sich im Zusammenspiel mit einem be­ste­hen­den Magen­leiden ver­schlimmert hätte.“

 „Jetzt bin ich schlauer.“

 „Beantworten Sie meine Frage, Dr. Dawes. Sie unter­zeichneten einen To­tenschein, in dem von einer Arsenvergift­ung keine Rede war?“

 „Ja.“

 „Kam Ihnen damals überhaupt der Gedanke, daß es sich um eine Arsen­vergiftung han­deln könnte?“

 „Es gab keinen Anlaß, warum ich das hätte vermuten sol­len.“ ...

 „Nun, wir entdeckten ja das Arsen.“

 „Wer entdeckte das Arsen?“

 „Wir arbeiteten gemeinsam an der Obduktion.“

 „Wer machte die toxikologischen Analysen?“

 „Das Labor des Amtsarztes.“

 „Sie nahmen sie unbesehen hin?“

 „Ja.“

 „Und änderten daraufhin prompt Ihre ursprüngliche Auf­fassung hinsicht­lich der To­de­sur­sa­che?“

 „Ja. Lieber Gott, jedem kann doch mal ein Fehler unter­laufen.“

 „Sind Sie sicher, daß Ihnen jetzt der Fehler nicht unter­läuft.“

 „Ja.“

 „Aber als Sie den Totenschein unterschrieben, waren Sie genauso über­zeugt, dass Sie keinen Fehler begangen hat­ten, nicht wahr?“

 „Ja, das kann man sagen!“

 „Ich danke Ihnen, Dr. Dawes. Das ist alles.“

Auf diese Weise, mit einem Spiel mit Worten und Begrif­fen, macht Mason jeden für ihn unangenehmen Zeugen fer­tig. Da sich dieses Spiel aber öfter wieder­holt, als der Leser es verkraften kann, wirkt es auf die Dauer ermü­dend und da­mit langweilig.

Die Frage, ob Perry Mason zu den Detektiven gezählt werden soll oder ob er nur als Rechts­an­walt betrachtet wer­den kann, der in Kriminalromanen agiert, läßt sich un­­schwer be­ant­wor­ten. Er ist Detektiv, auch wenn er Rechts­anwalt ist. Philip Trent war Jour­na­list und ist den­noch als Detekiv betrachtet worden. Ebenso verhält es sich bei Perry Mason, wenngleich dessen Tätigkeit vor Ge­richt stärker betont wird als Trents Arbeit bei der Londoner Zeitung Sun.

Im Vergleich der beiden Detektive ist Mason doch sehr konventionell und bei­leibe nicht so lebendig und mitrei­ßend wie Nero Wolfe und Archie Goodwin.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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