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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Literatur • Kapitel 4

Der Weg zu Sherlock Holmes

Der Polizeikommissar von Scotland Yard: Himmlischer Bote, auf Erden weilend, ein irdisches Weib begattend, wie bei Moses 1. Buch, Kapitel VI zu lesen. Blond, jung, schön, übermenschlich erleuchtet, gütig.

Willy Hass. Die Theologie im Kriminalroman. 1929.


ie Verbrechen in Detektivromanen geschahen in Paris, London oder auf einem Land­schloß in England oder Schottland, an Plätzen also, die der Leser an­­zie­hend fand, kannte oder an die er sich mit etwas Phantasie versetzen konnte. Die Handlung spielte sich (fast) mit­ten in seinem Leben ab. Daß Verbrecher, die sich hier einge­schmuggelt haben könnten, am Ende doch immer von einem Detektiv gestellt wurden, vermittelte ein ange­nehmes Ge­fühl der Sicherheit und Un­verletzlichkeit.

Doch nicht nur in der Fiktion, auch in der Realität gewan­nen Detektive immer größeren Einfluß. Überall in der Welt wurden staatliche und private Polizeibü­ros gegrün­det. Ne­ben der Sûreté und dem britischen Criminal In­vestigation Department (C.I.D. — Scotland Yard) entstan­den nach dem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten Pinkertons Detektiv-Agentur und in Preußen Dr. Stiebers Polizeitruppe am Berli­ner Molkenmarkt.

Über die Arbeit dieser Detektivbüros erschienen zahlrei­che Publikationen. Man ar­bei­te­te immer neue wissenschaftlic­he Methoden zur Verbrechensbekämpfung aus. Alphonse Bertillon führte 1882 die nach ihm benannte Methode zur Identi­fikation von Per­so­nen ein. Er hatte er­kannt, daß die Körpermaße zweier ver­schiedener Men­schen nur äußerst selten übereinstimmen. So entwickelte er ein Verfahren, durch das man an­hand von elf bestimm­ten Merkmalen einen Men­schen genau beschrieben konn­te.

Am Ende des Jahrhunderts entdeckte man die Möglichkeit­en, die die Feststel­lung eines Fingerabdruckes in sich birgt. Damit wurde Bertillons Methode ab­gelöst. Ame­ri­ka­ni­­sche Polizeibehörden und New Scotland Yard führten bald Fin­ger­ab­druck­kar­teien ein.

Dem Fortschritt in der Wissenschaft konnte sich der De­tektiv in der Fiktion nicht ver­schlie­ßen. Einen unwissen­schaftlich vorgehenden Detektiv hätte der Leser als un­mög­­lich ab­ge­lehnt. Auf der anderen Seite sollte die Anziehungs­kraft nicht verlorengehen, die in der Denkfähig­keit lag, wie sie zum Beispiel Du­pin besaß. Gesucht wur­de also eine Ge­stalt, die aus einer Synthese dieser beiden Dinge bestand.

Es dauerte einige Zeit, bis eine solche Figur auftauchte. Charles Dickens schil­derte im Jahre 1850 in seiner Zeit­schrift Household Words Kriminalfälle. In die­sen Arti­keln spiel­te ein Sergeant Witchem vom Scotland Yard die Hauptrolle. Dieser Sergeant war keine Er­fin­dung; er war vielmehr eine der bekanntesten Polizisten der damaligen Zeit. Allerdings hieß er in Wirklichkeit Wi­cher.

Dickens beschrieb Witchems Arbeit in Household Words sehr realitätsbezogen und tatsachengetreu. Wilkie Collins — ein langjähriger Freund und Mitarbeiter Dickens’ — ar­beitete Witchems Gestalt zum Sergeanten Cuff in seinem Roman The Moonstone — Der Monddiamant um. Cuff verband die Wissenschaftlichkeit Witchems mit dem über­­le­ge­nen Den­ken des Chevalier Dupin.

spaceholder red  Fragend legte Cuff einen mageren Finger auf die ver­schmierte Stelle un­ter dem Schloß.

 „Schade! Wie kam das zustande?“

 Diese Frage richtete er an mich. Ich erwiderte, gestern hätten sich die Mägde ins Zimmer gedrängt, und einer ih­rer Röcke habe wohl das Unheil angerichtet …

 „Wann waren gestern vormittag die Bedienten in die­sem Zimmer? Um elf Uhr, stimmt’s? Ist jemand im Haus, der uns sagen kann, ob gestern morgen um elf Uhr diese Far­be feucht oder trocken war?”

 „Der Neffe unserer Lady, Mr. Franklin Blake, weiß Be­scheid,“ sagte ich.

 Eine halbe Minute später betrat Mr. Blake das Zimmer. „Jene Tür, Ser­geant, wurde unter meiner Auf­sicht, mit mei­ner Hilfe und mit einem Binde­mittel mei­ner eigenen Erfin­dung von Miss Verinder bemalt. Dieses Binde­mittel trock­net in zwölf Stunden — wel­che Farbe auch man mit ihm gemein­sam verwendet.“

 „Erinnern Sie sich noch, wann das jetzt verschmierte Stück gemalt wur­de?“ fragte der Sergeant.

 „Sehr genau! Es war das letzte Stückchen, das noch zu be­malen blieb. Wir wollten es am letzten Mittwoch fertig be­kommen, und ich selbst been­dete die Arbeit um drei Uhr nachmittags oder kurz danach.“

 „Heute ist Freitag. Wir wollen einmal zurückrechnen. Um drei Uhr am Mitt­­woch­nach­mit­tag wurde die Malerei beend­et. Das Bindemittel trocknet in zwölf Stunden, also um drei Uhr Donnerstag morgen. Um elf Uhr hielt dann der Inspek­tor (des Be­zirks, der mit der Aufklärung des Verbrechens vor Cuffs Eingreifen betraut war), hier die Untersuchung ab. Elf weniger drei macht acht. Diese Far­be war bereits seit acht Stunden trocken, Herr Inspek­tor, als nach ihrer Vermu­tung die Röcke der Mägde da­mit in Berüh­rung kamen.“

Zur Zeit, als The Moonstone erschien, veröffentlichte der französische Schrift­steller Emile Gaboriau eine Anzahl von Detektivgeschichten.

Dem kühl-nüch­ternen Englän­der Cuff tritt sein Monsieur Lecoq gegenüber. Lecoq be­­sitzt in vie­lem Ähnlichkeit mit Vidocq. Aber auch er hat die Fortent­wicklung mit­­ge­macht. Er kennt gewisse krimi­nalistische Kniffe; so kann er zum Beispiel auf den ersten Blick sagen, ob in einem zerwühlten Bett tatsächlich ge­schlafen wurde. Ein andermal vermag er am Schlagwerk einer Uhr festzu­stellen, daß die Zeiger verstellt wurden.

Äußerlichkeiten fallen für den Detektiv immer stärker ins Gewicht. Zwar sagt Lecoq einmal von sich:

spaceholder red  „Ich lege meine Individualität ab und bemühe mich, in den Verbrecher zu schlü­pfen. Ich höre auf, der Agent der Sûreté zu sein, um dieser Mensch zu werden.“

Das ist eine Äußerung, wie sie auch Dupin einmal getan hat — aber auf der an­deren Seite sammeln Lecoq wie Cuff einzelne Indizien, die sie schließlich zu einem Gesamt­bild zusammenstellen.

Auffällig sind sowohl bei Lecoq als auch bei Cuff wieder bestimmte herausge­stellte Eigenheiten. Cuff zum Beispiel hat eine Vorliebe für Rosen. Wenn er über ein wichtiges Pro­blem nachdenkt, pfeift er laut und falsch. Auch sein Aussehen zeigt dem Leser sofort, daß er es mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun hat:

spaceholder red  Er war ein ergrauter Herr, so erbarmungswürdig dünn, daß es schien, als hätte er nir­gend­wo auch nur eine Unze Fett auf den Knochen. Er war von Kopf bis Fuß würdig in Schwarz gekleidet, hatte ein scharfgeschnittenes Ge­sicht, über das sich eine gelbe Haut spannte, die so aus­getrocknet und verschrumpelt erschien wie ein Herbst­blatt. Die Augen waren von einem hellen Grau und hat­ten die sehr beunruhi­gende Eigenart, einen anzu­schauen, als er­warteten sie mehr von einem, als man selbst zu sa­gen wußte. Sein Gang war leise, er sprach mit melancho­lischer Stimme, und die lan­gen, mageren Finger hatte er wie Klauen ineinandergehakt. Er hät­te alles sein können — ein Pfarrer, ein Leichenbestatter oder sonst was —, nur nicht das, was er wirklich war.

Die Parallelen zu Sherlock Holmes fallen auf den ersten Blick ins Auge. Cuff ist of­fen­sicht­lich der Vor­gän­ger von­ Holmes, wenn auch verschiedene Äußerlichkeiten vom Va­ter des Meisterdetektivs, Sir Arthur Conan Doyle, anders ge­staltet wor­den sind.

spaceholder red  Er maß mindestens einen Meter achtzig und war zudem außerordentlich schlank, so daß er noch beträchtlich grö­ßer wirkte. Der Blick aus seinen hellen Augen war scharf und durchdringend, außer in den Stunden jener seltsa­men Entrücktheit … Seine schmale Hakennase verlieh ihm einen wachsam-entschlossenen Ausdruck. Und auch sein kantig hervorstehen­des Kinn zeugte von seiner Wil­lenskraft, kenn­zeichnete den Mann der Tat. Seine Finger wie­sen ständig Tintenspuren und Säureflecken auf. In­dessen handhabte er seine empfindlichen Instrumente mit so viel Zartheit und Be­hän­dig­keit, daß es eine Lust war, ihm zu­zusehen.

Das ist also Sherlock Holmes — ein verjüngter Sergeant Cuff. Er wohnt zu­sammen mit sei­nem Freund, Dr. Wat­son, in der Londoner Baker Street 221B.

Die „Stunden jener seltsa­men Entrücktheit“ lassen sich auf eine Angewohnheit zu­rück­füh­ren, die im Detail im Anfangsparagraph von The Sign of the Four – Das Zeichen der Vier (Lippincott’s Monthly Magazine; 1890) beschrieben wird (zuerst das Original, dann eine Übertragung):

spaceholder blue  Sherlock Holmes took his bottle from the corner of the mantel-piece and his hypodermic syringe from its neat mo­rocco case. With his long, white, nervous fingers he adjusted the delicate needle, and rolled back his left shirt-cuff.

 For some little time his eyes rested thought­fully upon the sinewy forearm and wrist all dotted and scarred with innumerable puncture-marks. Finally he thrust the sharp point home, pressed down the tiny pis­ton, and sank back into the velvet-lined arm-chair with a long sigh of satis­faction …

 “It is co­caine,” he said, “a seven-per-cent solution. Would you care to try it?”

spaceholder red  Sherlock Holmes nahm seine Flasche aus der Ecke des Kaminsims und seine In­jek­tions­spritze aus ihrem gefälligen Marokkoleder-Kästchen. Mit seinen langen, weißen, nervösen Fingern richtete er die zarte Nadel aus und rollte die linke Hem­den­man­schet­te zurück.

 Einige Zeit lang ruhten seine Augen nachdenklich auf dem sehnigen Unterarm und dem Handgelenk, die von unzähligen Einstichen übersät und narbenentstellt waren. Schließlich stieß er die scharfe Spitze ins Ziel, drückte den winzigen Kolben herunter und sank mit einem lan­gen Seufzer der Genugtuung zurück in den mit Samt aus­ge­klei­de­ten Sessel …

 "Es ist Kokain", sagte er, "eine siebenprozentige Lö­sung. Möchten Sie es versuchen?"

Kokain war legal und große Mode, injiziert wie von Sherlock Holmes, in Ra­chen­pas­tillen, als Lebenselexier in Bordeauxwein gemischt oder in Coca Cola in den USA (heute nicht mehr). Lange Zeit hielt man es für völlig harmlos, entspannend und kraft­spen­dend. Doch im Laufe der Zeit brachte Dr. Watson Sherlock Holmes vom Kokaingebrauch ab.

Holmes war und ist auch noch heute in Großbritannien ein Idol. Man kleidete sich nach ihm, trug großkarierte Mäntel und Schirmmützen, rauchte wie er Shagpfeife. Spezielle Holmes­klubs wurden eingerichtet, und man baute schließ­lich die Wohnung eines Hauses in der Baker Street — Num­mer 221B existiert nicht — zu einem Sher­lock-Holmes-Museum aus.

Die Vergötterung dieser Gestalt scheint zuerst vielleicht nicht unverständlich, denn Holmes ist in der Tat ein Über­mensch, aber wenn man genau hinsieht, ist er beilei­be kein angenehmer oder gar anziehender Zeitgenosse. Er ist ego­zentrisch, arrogant, an­schei­nend all­wissend und von sich selbst durch und durch überzeugt.

Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930), Holmes’ geistiger Va­ter, liebte aus diesen Grün­den sein Kind nicht sonder­lich. 1887 erschien in Beeton’s Christmas Annual die ersten Sher­lock-Homes-Geschichte A Study in Scarlet – Studie in Scharlachrot. Doch bereits 1893 stirbt Holmes; Doyle lässt ihn in The Final Problem — Das letz­te Problem zu­­sam­men mit seinem Gegner, Profes­sor Mo­riarty, in die Reichenbachk­lamm im Allgäu stür­zen. Jahre später, da das Publikum nach neuen Abenteuern mit Holmes ruft, stellt sich heraus, daß der Detektiv gar nicht abgestürzt ist, sondern daß er sich an einem Fels­vor­sprung hat fest­halten können und die Zwi­schenzeit zu einer Forschungs­reise in das ferne ti­betanische Hochland genutzt hat.

Holmes gewann immer mehr Anhänger. Die Frage nach dem Grund lässt sich schnell beantworten. Er besitzt die­se Anziehungskraft aufgrund seiner geisti­gen Virtuosität, die den Leser — zumindest den flüchtigen — faszinieren muß. Dazu tritt noch ein gewisser Charme, der sich schlecht be­schreiben läßt.

Alles andere, was die äußere Gestalt Holmes’ betrifft, ist nur Ausschmückung, Kulisse für die augenscheinliche Mi­schung aus Vernunft und Wissenschaftlich­keit, die, ver­­bun­den mit etwas Körperbeherrschung und grundle­genden Kennt­nissen der Selbst­ver­tei­di­gung, die Basis für Holmes’ Schaffen bildet. Sir Arthur Conan Doyle schreibt dazu im achten Kapitel seiner Erinnerungen Memories and Adventu­res im Jahre 1924:

spaceholder red  Gaboriau hatte mich durch die elegante Art verführt, in der er die Figuren seiner In­tri­gen handhabte, und der Meis­terdetektiv Poes, Herr Dupin, war seit meiner Kind­­heit einer meiner Lieblingshelden. Aber konnte ich ihnen etwas aus meinem Fundus an die Seite stellen? Ich dachte an meinen al­ten Lehrer Joe Bell, seine Adlerge­stalt, sein bizarres Betra­gen, seine son­derbare Gabe, be­stimmte De­tails zu bemer­ken. Als De­tek­tiv wäre er sicher dahin ge­langt, aus dieser fesselnden, aber zweck­losen Übung so et­was wie eine exakte Wissenschaft zu machen.

Diese exakte Wissenschaft, die Doyle hier anspricht, kann es in der Wirklich­keit na­tür­lich nicht geben. Das Gros von Holmes’ Schlüssen ist zwar folgerich­tig, aber ein Außen­ste­­hender, der sie als Ganzes gesehen, erkennt sie sicher nicht als logisch an. Be­trach­tet man zum Bei­spiel die Aufdeckung am Ende der Study in Scarlet, so muß dem Leser dies auffallen:

spaceholder red  Ich ging zu Fuß und völlig unvoreingenommen zu dem Haus. Natürlich betrachtete ich zuallererst die Straße und fand da … etliche Spuren einer Droschke … Nach dieser meiner ersten Feststellung ging ich langsam den Garten­pfad entlang. Auf seinem lehmigen Grund zeichneten sich alle Fußstapfen deutlich ab. Wahrscheinlich hat er für Sie nur wie ein recht zertrampelter Matschstreifen ausgesehen. Mein geübtes Auge hingegen unterschied je­den Tritt auf sei­ner Oberfläche …

 Ich sah die schweren Stiefelabdrücke der Polizisten, aber ebenso wenig konnten mir die Fußstapfen der zwei Männer entgehen, die vorher durch den Garten gekom­men waren. Gerade an diesen zertretenen und zum Teil verwaschenen Spuren erkannte ich, daß diese Besucher vor den anderen dagewesen sein mussten. So bildete sich ganz von selbst das zweite Glied in meiner Beweiskette.

 Der eine Mann war groß, das konnte ich aus der Länge seiner Schritte schließen.

 Bei dem anderen ließ sich aus den modisch geschnittenen Abdrücken seiner Schuhe er­kennen, daß er wohl recht ele­gant gekleidet war.

 Diese Vermutung bestätigte sich, als ich das Haus be­trat. Der Mann mit dem teuren Schuhwerk lag leblos vor mir. So­fern es sich um Mord handel­te, mußte ihn also der große Mann begangen haben.

 Zwar war der Kör­per des Toten un­verletzt, der verzerrte Gesichtsausdruck je­doch wies dar­auf hin, das er sein Schicksal hatte auf sich zu­kommen sehen, ehe es ihn ereilte. Menschen, die am Herzschlag oder auf Grund einer anderen na­türlichen Ur­sache sterben, zeigen nie einen entsetzten Ausdruck.

 Ich roch an den Lippen des To­ten und nahm einen leicht säu­erlichen Geruch wahr. Daraus schloß ich, daß er vergiftet worden war. Daß man ihn ge­zwungen hatte, die Droge zu nehmen, bewies mir ebenfalls sein haß- und angster­fülltes Gesicht.

So klärt Sherlock Holmes, der „consulting detective — beratende Detektiv“, das Puzzle eines Mordfalls auf und weiß, wer der Mörder gewesen ist.

Aber die Zusammenhän­ge hätten auch vollkommen anders gewe­sen sein kön­nen. In Wirklichkeit kann man sie aus den von Doyle geschilderten Angaben nicht entnehmen. Holmes jedoch sieht sie als Tatsachen und setzt sie in gedanklichen Ope­rationen mit viel Phantasie zu einem Gan­zen zusammen.

Natürlich sind seine Schlüsse richtig. Wie sollte es auch anders sein?

Doyle und seine Nachahmer be­gannen nämlich ihre Romane von hinten, von der Lösung her, zu schreiben, und die Handlung wurde auf den Gedan­kengang des Detektivs hin zu­ge­schnit­­ten. So lässt sich Hol­mes’ Gedankenkette nur in einer Richtung ver­fol­gen, das heißt, sie ist zwar fol­gerichtig, aber unlogisch, denn sie läßt sich nicht rück­wärts abspulen, ohne daß man an mehreren Stellen die Möglichkeit hätte, eine andere Richtung einzu­schlagen, als Holmes sie gewählt hat.

Aber auch schon das, was Holmes als Tat­sa­che be­trachtet, muß nicht unbe­dingt Tat­sache sein.

Im Garten des Mordhauses findet er vier Fußabdrücke im Lehm. Aufgrund der Schritt­länge schließt er, es sei ein großer Mann gewesen. Die Möglichkeit, daß eine Frau den Garten durchquert haben könnte, zieht er anschei­nend über­haupt nicht in Betracht. Den großen Abstand der Fußabdrü­cke führt er auf die Größe des Menschen zu­rück: er könnte aber auch gerannt sein. Ferner schließt er aus den Abdrü­cken eleganter Schuhe, daß deren Besitzer ebenfalls elegant bekleidet sein müsse.

Die Behauptung, daß der Begleiter des Ermordeten des­sen Mörder sein müs­se, ist schließ­lich voll­kommen aus der Luft gegriffen und nicht nachweisbar. Ebenso gut hät­te der Mör­der sich bereits in dem Haus aufhalten können, bevor die beiden Männer dorthin gelangten. In Doyles Büchern jedoch besteht kein Zweifel an der Ausschließlichkeit der Deduktionen von Sherlock Hol­mes.

Sie stehen nach dessen eigener Aussage auf der Stu­fe von Euklids mathematischen Lehrsätzen. Holmes’ Begleiter, Dr. Watson, trägt zwar anfänglich Be­denken gegenüber der Analysierfähigkeit des Detektivs. Doch Holmes weiß sie zu zerstreuen. Dabei er­wähnt er auch den Chevalier Dupin, den er auf überhebliche Weise herab­würdigt und als Dilettanten darstellt:

spaceholder red  „Sie glauben wahrscheinlich, es sei schmeichelhaft für mich, mit diesem Dupin ver­gli­chen zu werden. Aber nach meiner Ansicht war er eigentlich ein Stümper. Sein Trick, in die Gedanken seines Freundes nach einer Viertelstunde plötzlich mit einer beiläufigen Bemerkung einzubrechen, ist so brillant wie oberflächlich.

Sicher war er ein ge­schickter Analytiker, wenn auch bei weitem nicht ein sol­ches Phä­no­­men, wie Poe annahm.“

Auch schon Dupin hat in ähnlicher Weise über Vidocq ge­urteilt. Doch was ist Holmes viel mehr als Dupin? Frei­lich, er kennt sich in Physik, Chemie, Botanik, Geologie und Anatomie aus, so daß er nicht mehr wie Dupin fast allein auf die geistigen Beweggründe eines Verbrechers angewie­sen ist, die dieser eventuell hegt.

Jedoch auf beide trifft genau das zu, was Hermann Kes­ten einmal sagte. Er be­­haup­te­te, alle diese Gestalten entstammt­en einem „vollkommen irrealen Kunst­produkt“. Diese Be­hauptung kann man ohne jeden Zweifel als rich­tig werten, denn das, was Doyle geschrieben hat, rankt sich um nach­weislich falsche Ge­dankengänge Holmes’.

Viele der negativen Eigenschaften im Bilde des Detektivs werden dem flüchti­gen Leser jedoch nicht auffallen, denn Doyles Stil unterstützt diesen Leser: Er ist leicht und flüssig. Den Leser kümmert es nicht; er wird unterhalten.

Wie Poe hat auch der schriftstellerische Vater des Sher­lock Holmes versucht, seinen Meisterdetektiv zu keiner blo­ßen sterilen Denkmaschine werden zu lassen. Er umgab ihn mit ei­nem Flair der Extravaganz. Dupins Vorliebe für nächtliche Spaziergänge entsprechen Holmes’ Kokain­sucht und seinem Geigenspiel.

Damit spricht Doyle die romantische Ader des Publikums an. Im Laufe der Zeit ver­liert der Detektiv diese Eigenschaft­en, die zwar nur als Requisiten einge­setzt dennoch ein bißchen Menschlichkeit in seine Welt brachten, bis er schließlich nur noch eine Thinking Machine — Denkma­schine war, wie man Jac­ques Futrelles (1875-1912) Super­detektiv August S.F.X. van Dusen bezeichne­te.

Man hört häufig, Doyle erst sei der richtige Schöpfer der Detektivliteratur gewe­sen. Das ist wahrscheinlich nicht rich­tig. Doyle brachte der Detektivliteratur Massenpro­duktion und weite Verbreitung, doch übernahm er die Struktur seiner Geschichten und seiner Romane direkt von Poe. So ist auch Holmes’ ständiger Begleiter, Dr. Watson, ein Relikt aus Poes Zei­ten. Zu Beginn der Study in Scarlet erprobt Holmes an ihm seine Dedukt­ionskünste:

spaceholder red  Meine Gedankenstufen waren bei Ihrem Anblick freilich da und berichte­ten etwa fol­gen­des: Dieser Mann sieht wie ein Arzt aus, hat aber etwas Soldatisches in seiner Haltung. Er wird also Militärarzt sein.

 Sein dunkles Ge­sicht deutet darauf hin, dass er eben aus den Tropen zu­rückgekehrt ist. Den dunklen Teint hat er nicht von Natur, denn an den Handgelenken ist seine Haut fast weiß. Daß er viel mit­gemacht hat, verraten seine ein­gefallenen und ver­härm­ten Gesichtszüge. Er muß am linken Arm, den er steif und un­gelenk hält, ver­letzt sein.

 Im welchem Teil der Tropen kann sich ein englischer Militärarzt eine sol­che Ver­wun­dung zu­gezogen ha­ben? Doch nur in Afghanistan.

Holmes’ Folgerungen treffen wie immer zu. Er irrt niemals. Nach langer und schwerer Krankheit aus Afghanis­tan und Indien zurückgekehrt, trifft Dr. Watson einen alten Freund, der ihn mit Sherlock Holmes be­kanntmacht und ihm zu ei­ner Wohn­ge­mein­schaft mit diesem verhilft. Wat­son erzählt seine Geschichte selbst; auch in den späteren Büchern tritt er immer als Erzähler auf. So kann er, nach­dem Sherlock Holmes zum zweiten Male und damit endgül­tig gestor­ben ist, weiterhin Ge­schichten aus seinem Fundus berichten.

Der Leser wird durch Watson in die Handlung mit einbe­zogen, denn er identifi­ziert sich mehr oder minder mit Wat­son. Mit dem großen Detektiv kann er sich nicht ver­glei­­chen; Sherlock Holmes ist nur ein Ideal, das man an­strebt, aber nicht zu erreichen vermag.

Mit Unterwürfig­keit, fast mit Naivität blickt Watson zu Holmes empor und anerkennt dessen Leistungen: Watson ist ein ganz einfacher und nor­maler Mensch.

spaceholder red  Er [Sherlock Holmes] konnte seine eigenen Heldentaten nicht selbst er­zählen. Er brauch­te einen banalen Gefähr­ten, der ihn durch den Kontrast zur Geltung bringen wür­de; ein unscheinbarer und unauffälliger Name für diese glanzlose Person: Watson wäre gerade recht.

So schrieb Doyle in seinen Memories and Adventures. Eine Person, die zwi­schen De­tek­tiv und Le­ser als Medi­um wirkt, findet sich auch noch in den Detektivgeschicht­en un­serer Zeit, ebenso wie der herausgestellte Gegensatz zwi­schen Privatdetektiv und Polizei.

Nach Holmes’ eigener Meinung ist Scotland Yard ein „trauriger Haufen von Holz­köpfen“; und er hat recht da­mit. Die Polizisten, mit denen er es in Doyles Geschich­ten zu tun hat, verwischen am Tatort nicht nur Spuren, sie verrennen sich auch in falschen Thesen, beschuldigen Unschuldige des Mordes — alles in allem: Es würde das Chaos herrschen, würde Holmes nicht für das Recht ein­treten und dafür sor­gen, daß der wirk­lich Schuldige schließlich doch immer ge­faßt wird.

Einzig von den Kommissaren Gregson und La­strade hält Holmes et­was — aber auch nur deswegen, weil er von ihnen hoch ge­schätzt und als „De­tektivberater“ zu un­durch­sich­ti­g­en Fällen hinzugezogen wird.

Doyle fand immer neue Möglichkeiten, um Holmes her­auszustellen und die Polizei zum Clown zu machen. So stützt sich Holmes, wenn er in London In­formationen und Hilfe sucht, die er sich selbst nicht verschaffen kann, nicht etwa auf Scotland Yard, sondern auf die Baker Street Irre­gulars, eine Bande schmutziger Gassenjungen, die sich pfiffig und verschlagen alle Auskünfte be­sorgen, die der De­tektiv benötigt.

Nach einer Weile klagte Doyle über seinen Goldesel Sherlock Holmes: „Ich habe ihn satt wie Gänseleberpastete, von der ich ein­mal zuviel aß.“

Den­noch ließ er ihn nicht fallen, er brauchte das Geld, das Sher­lock Holmes ihm ein­brach­te. Er hätte viel lieber Ge­schichtsromane ­ für die ihm der Adelstitel verliehen wurde ­ oder spi­ritistische Abhandlungen geschrieben, für die er, je älter er wurde, immer stär­ker schwärmte.

In späten Kurzge­schichten experimentierte er mit einer Ver­quickung von Spi­ritismus und Holmes’ Eigenschaften. Dies ist nicht gelun­gen. Am besten blieb die Gestalt des De­tektivs in den ersten Ro­manen und Kurzgeschich­ten her­ausgearbeitet.

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Peter de Chamier: Der Detektiv in der Li­te­ra­tur • Ein Essay zum Ei­gen­ge­brauch. 121 Seiten.
Dritte Auflage 2023 | e-Fassung
© 2023 by Peter de Chamier.

www.de-chamier.com


Inhalt

Vorstellung

Einführung
Die Vorläufer
Edgar Allan Poe
Sherlock Holmes
Holmes’ Nachfolger
Hercule Poirot
Blick nach Amerika
Kommissar Maigret
Hard-boiled
Und in Europa?
Made in Germany
Sex and Crime
Spionageromane
Epilog

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