Header


Hinweis für Smartphone-Nutzer: Diese Website läßt sich am bes­ten auf einem gro­ßen Bild­schirm be­trach­ten und lesen.

Smartphone users please note: This website is best seen on a big screen.


Peter A. Rinck: Klimatische Kurorte • Abschnitt 8

Schlussbemerkungen

Statistik und Kurgäste.
Es ist heute leider nahezu unmöglich, Daten über die Anzahl der Kur­gäs­te oder die Anzahl der Übernachtungen in der Südschweiz oder in Oberitalien vor dem Ers­ten Weltkrieg zu erhalten. Die eidgenössische Frem­den­ver­kehrs­sta­tis­tik wurde erst im No­vem­ber 1933 eingeführt, sie exi­stiert also praktisch erst mit dem Januar 1934. Zah­len­an­ga­ben aus früherer Zeit wur­den nicht verarbeitet.

Über die Besucherfrequenz im neunzehnten Jahrhundert gibt es nur einige un­befriedigende Äußerungen der Kurortschriftsteller, so zum Beispiel von Peters, nach dessen Angaben sich um 1880 etwa 150 Personen im Frühjahr und eben­so viele im Herbst in Lugano als Kurgäste aufhielten. Ähnlich sah es in Pallan­za aus. Das Grand Hôtel und die übrigen Hotels waren selten voll ausgelastet. Peters stellte wiederum 1880 folgende Kurgaststatistik auf, in die die Anzahl der längere Zeit am Ort verweilenden Kurgäste ein­ge­gan­gen war. Personen, die nur über­nach­te­ten oder einige Tage bleiben (»Passanten«), klammerte Pe­ters aus:

»Im Herbst etwa 100-150 Fremde, im Winter zwischen 50 und 80 und im Früh­jahr circa 200.«

Reimer veröffentlichte ein Jahr später die folgenden Zahlen:

»Der Bestand an Gästen (Deutsche und Engländer) betrug in den letz­ten Jah­ren im Grand Hôtel bis nach Weihnachten noch etwa 100, von Weihnachten bis März nicht unter 70.«

Zahlen aus Locarno und seiner Umgebung liegen nicht vor.

Interessant ist die Entwicklung zu beobachten, die während des Zweiten Welt­krieges ein­trat. In Lugano wurden im Jahre 1937 insgesamt 745.736 Über­nachtungen gezählt, davon waren 304.667 von Schweizern und 441.069 von Ausländern gebucht worden. Im Jahre 1942 wur­den noch 470.708 Übernachtungen registriert, und die relati­ve Zusammensetzung der Gäste hatte sich vollkommen verändert. Nach Angaben des »Ente Turistico Lugano e Din­tor­ni« standen lediglich 48.772 Übernachtungen von Ausländern 421.936 Übernachtungen von Schweizer Bürgern gegenüber.

Eine ähnliche Entwicklung war während des Ersten Weltkrieges ebenfalls zu vermerken; die Auswirkungen auf die schweizerische Wirtschaft und be­son­ders auf die Einkommen der in der Touristenindustrie Beschäftigten oder von ihr Ab­hängigen liegen auf der Hand, denn die heil­kli­ma­ti­schen Kurorte hatten sich neben den Mineralbädern und dem Tourismus zu einem be­deu­tenden Faktor in der Volkswirtschaft der Eidgenossenschaft entwickelt.

Besonders in der Schweiz, aber auch in Italien und anderen Ländern bil­de­ten die Kurgäste, die hier Heilung oder Linderung ihrer Krankheiten such­ten, ne­ben dem Fremdenverkehr einen nicht mehr wegzudenkenden Anteil nicht nur für die Einnahmen im privaten Bereich, sondern auch an den für die Volkswirt­schaft wichtigen Deviseneinnahmen des jeweiligen Lan­des. Während der Welt­kriege trug der Ausfall dieser Einkünfte der wirtschaftli­chen Be­dräng­nis der Schweiz bei. Schwer litt hierunter auch der Kanton Tessin, in dem der Frem­den­ver­kehr für einen Teil der Bevölkerung die Haupteinnahmequelle bildete, da die Land­wirt­­schaft besonders in den Tälern nicht sehr ergiebig war und eine nen­nens­wer­te In­dustrie im Kanton nicht existierte.

Die Zeiten ändern sich — und auch die Krankheiten.
Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich das Bild der klimatischen Kurorte überall in Eu­ro­pa. Die Zahl der Erkrankungen an Tuberkulose ging langsam zu­rück, so dass sich die Tu­ber­ku­lo­se­kur­or­te auf andere Er­kran­kun­gen um­stel­len oder sich in größerem Maße als vorher am all­ge­mei­nen Tou­risten­ver­kehr be­tei­­li­gen mußten.

In seiner Untersuchung zum medizinischen Ausbau der schweizerischen Kurorte verwies von Neergaard 1944 darauf, daß Arosa und Montana bereits ihren spezifischen Charakter als Tu­ber­ku­lo­se­kur­or­te verloren hatten und selbst für Davos, den führenden Tuberkulosekurort der Welt, diese Krank­heit nur noch eine Teilbedeutung besaß. Der Anteil der mit Tuberkulösen be­leg­ten Betten betrug 1935 in Davos bei den Privatsanatori­en 13,9%, in Volksheilstätten 22,6%, was einen starken Rückgang signalisierte.

Hierzu trat der erhöhte Wohlstand in der Bevölkerung Mitteleuropas, der angel­sächsischen Länder und Skandinaviens, der es breiteren Schichten ermöglich­te, Reisen ins Ausland zu un­ter­neh­men. Nicht nur wohlhabende Leute, sondern auch durchschnittlich verdienenende wa­ren nun in der Lage, zwei oder drei Wochen im Jahr nach Süden zu reisen und dort — wenn auch in bescheidenem Maße — ihren Urlaub zu verleben.

Eine Folge hiervon war die Änderung der Hauptsaison an den oberitalieni­schen Seen. Wäh­rend Lugano zum Beispiel vor 1933 fast nur Wintergäste be­herbergte, entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Som­mer­tou­ri­smus stark und an die Stelle der Wintersaison, die bisher die meisten Gäste ge­bracht hatte, traten andere Ferienformen, in erster Linie das Ski­fahren an den höher gelegenen Wintersportorten.

Den größten Anteil der Feriengäste in den Orten Lugano, Locarno und Pallan­za und den vielen kleineren Ortschaften in ihrer Umgebung bilden heute nicht mehr Kranke, Re­kon­va­les­zen­ten und andere Personen, die aus medizinischen Gründen hierher reisen, sondern Tou­ri­sten.

Der Gesamtrahmen wird angepasst.
Für die neue Art von Kunden wurde die In­fra­struk­tur der Orte verändert und teilweise das Bild der Ort­schaften dadurch zerstört. Anstelle der tra­di­tio­nel­len land­schafts­ge­wach­se­nen und -konformen Architektur ragen heute vielstöckige Be­ton­häuser mit sterilen, überall in der Welt anzutreffenden Fassaden in den Himmel. Auto­bah­nen und Schnellstraßen durch­schnei­den die engen Täler des Kantons und trennen oft na­tür­lich gewachsenen Landschaften.

Der Tessiner Architekt Mario Botta beschrieb diese Situation in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. Juli 2013:

»Das Gleichgewicht, das von den einstigen wirtschaftlich-sozialen Systemen bis in die 1960er Jahre hinein vorgegeben wurde, erlebte ab der Mitte des 20. Jahr­hun­derts hef­ti­ge Erschütterungen durch den hemmungs­losen Bauboom. Auf fruchtbaren Boden ist die ag­gres­sive Ten­denz der Zer­siedelung vor allem in den vier Agglo­mera­tions­räumen von Lo­car­no, Bel­lin­zo­na, Lugano und im Men­drisi­otto gestossen. Diese lässt alle Konzepte einer natürlichen Stadtentwicklung völlig ausser acht und führt die Auswüchse der Bau­spe­ku­la­tion vor Augen.«

Auf der anderen Seite ist der Kanton Tessin mit seinen beschränkten Mög­lich­­kei­ten, seinen auf Fremdenverkehr ausgerichteten Ortschaften eine weitere räumliche Ausdehnung zu bie­ten, nicht darauf ein­ge­­richtet, den Tourismus ins Unendliche wachsen zu lassen. Ein Mas­sen­tou­ris­­mus spa­ni­schen oder ita­li­eni­schen Stils träfe hier bald auf seine natürliche Grenzen.

Mit Pallanza meinte es das Schicksal lange Zeit nicht so gut wie mit Lo­car­no und Lugano. Die Stadt — heute mit Intra zur Verwaltungseinheit Verbania zusammengeschlossen — hob sich in der Erhaltung ihrer Gebäude, der Sorge um die städtischen An­lagen und Parks und die Rein­lich­keit auf den Straßen wohltuend vom Schmutz und vom Verfall der Häuser und Stra­ßen in dem umliegende Ortschaften ab, aber die mißliche politische Lage und das wirt­schaft­li­che Auf und Ab in Italien in der Zeit nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg trugen das Ihre dazu bei, dass viele zahlungskräftige Kurgäste und Touristen aus dem Ausland den Ort zu meiden begannen. Italienische Erholungssuchende allein konnten diesen Gäs­te­schwund nicht ausgleichen. Während der sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahr­hun­derts er­reichte der Auto-und-Zelt-Tourismus angelockt durch die damals billigen Preise in Italien auch diesen Ort und half mit, seinen Cha­rak­ter zu zerstören.

Mittlerweile hat das Pendel zurückgeschlagen. Viele der italienischen Orte sind mit viel Lie­be zum Detail restauriert worden, und neue Gebäude pas­sen sich im Gegensatz zum schwei­ze­ri­schen Tessin der gewachsenen Archi­tek­tur an.

Kategorisierung der Schweizer Klimakurorte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitete die schweizerische Ar­beits­ge­mein­­schaft für Kli­ma­fra­gen eine Ergänzung zu den Un­ter­su­chun­gen über das Klima und die Indikationen der heil­kli­ma­ti­schen Kurorte in der Schweiz. Sie teilte 1957 die schweizerischen Klimakurorte in ver­schie­de­ne Ka­te­go­rien ein. Als Ge­sichts­punk­te hierfür wurden auf der einen Seite die In­di­ka­tionen, auf der anderen Seite geo­gra­phi­sche und klimatologische Faktoren gewählt. So wur­de für den einzelnen Arzt und andere In­ter­es­sen­ten eine Vorlage geschaffen, nach der er sei­ne Patienten an den für sie günstigsten Kurort schicken konnte.

Die Einteilung erfolgte in vier »Reizstufen«: 0, 1, 2 und 3. Dies entsprach Kur­orten mit Schon­kli­ma; Kurorten mit leichten Reizfaktoren; Kurorten mit mässi­gen bis kräftigen Reiz­fak­to­ren, jedoch mit gutem Windschutz als Schon­faktor; und schließlich Kurorten mit intensiven Reizfaktoren und kräf­ti­ger Luftbewe­gung.

Die Kurorte an der Alpensüdseite Lugano, Locarno — und somit auch das ita­li­e­ni­sche Pal­lan­za — liegen nach dieser Einteilung in der Reizstufe 0 als Klimakur­orte mit Schonklima in der Höhenlage zwischen 200 und 600 Me­tern über dem Meeresspiegel.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren in der Südschweiz offiziell als kli­ma­ti­sche Kuror­te die folgenden Ortschaften anerkannt:

Brissago; Ascona und Locarno am Lago Maggiore, Lugano und Tesserete im Gebiet des Lu­ga­ner Sees. Das ebenfalls an de Alpensüdseite gelegene Cade­mario (800 m über dem Meeresspiegel) zählt als anerkannter Kurort zur Reiz­stufe 1 und besitzt heute ein Kur- und Wellnesshotel, das aus einer hö­he­ren Töchterschule hervorging.

Aus klimatischen Gründen an die oberitalienischen Seen zu reisen, ist heute nebensächlich ge­wor­den; es sei denn, die Touristen kommen aus der Deutsch­­schweiz und aus Süd­deutsch­land, wenn dort der graue Himmel droht. Viele Kurorte, vor allem die Schweizer, sitzen mitt­ler­wei­le in der »Zweitwohnungsfal­le«, so auch die im Tessin.

Deutsche und Deutschschweizer kauften in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahr­hun­derts Ferienhäuser oder –wohnungen im Tessin, um die südliche Sonne in der Schweiz zu genießen, von deutschschweizer Vorteilen ohne das ita­lie­ni­sche Chaos zu profitieren oder in der neutralen Schweiz der »kom­mu­ni­sti­schen und deutsch-sozialistischen Ge­fahr« zu ent­ge­hen. Ganze Dörfer wurden zu Geistersiedlungen, da die Ferien­absteigen nur wenige Tage im Jahr genutzt wurden.

In den acht­ziger Jahren kam auch im Tessin der neue Wohlstand endgültig zum Ausbruch, nach dreißig Jahren langsamer Teilnahme am nord- und west­schwei­zer Wirtschaftswunder. Dies ging allerdings Hand in Hand mit unkontrollierter Entwicklung. Kultur und Erziehung wur­den von Nostalgikern geprägt, Wirtschaft, Bank­wesen und Justiz von Gaunern un­ter­wan­dert.

Der Bauboom hatte tiefgreifende Auswirkungen. Die Landschaft wurde durch häßliche Bun­ker zersiedelt, die einigen wenigen Ortsansässigen viel Geld brachten. Der Verkehr nahm zu und mußte gebändigt werden. Die Umweltbelastung verschlechterte sich. Die Luft­ver­schmu­tzung im Tessin ist hoch, vor allem die Ozonwerte überschreiten in den Sommermonaten die Grenz­wer­te deutlich — Atemprobleme treten nicht nur bei älteren Personen auf. Dies ist ein grenz­über­schrei­ten­des Problem, teilweise aus Norditalien im­por­tiert, das vor allem durch den Autoverkehr und die Industrie ausgelöst wird.

Und das Klima selbst?
Es begann sich wieder einmal zu ändern, dieses Mal rapide.

Man darf ortsspezifische Veränderungen nicht verallgemeinern oder ohne Nachweis auf andere Regionen projizieren. Ste­phan Bader und Heinz Bantle be­schrie­ben im Jahre 2004 das »Schweizer Klima im Trend« mit seiner Temperatur- und Nie­der­schlags­ent­wick­lung in den vergangenen zwei Jahrhunderten.

Kälte- und Wärme­wellen lösten sich ab. In den hundert Jahren zwischen 1790 und 1890 war im Alpenraum eine aus­ge­präg­te Ab­küh­lung wahrnehmbar; die tiefsten Werte wurden am Übergang von den 1880er zu den 1890er Jahren erreicht. Eine deutliche Wärmephase in der Mitte des 20. Jahrhunderts gipfelte in der extremen Wärme des Sommerhalbjahres von 1947. Dann kühlte es wieder ab. Auf ähnlich tiefe Werte wie während der Jahre 1910 bis 1914 sank das langjährige Mittel der Sommerhalbjahre nochmals im Zeitraum von 1977 bis 1980. Doch gegen Ende der 1980er Jahre vollzog sich dann eine sprung­ar­ti­ge Änderung, eine massive Er­wär­mung setzte ein. Sie besteht weiterhin, wenn auch of­fen­sicht­lich etwas weniger aus­ge­prägt im Oberitalienischen Seengebiet. Der Trend besteht auch dort, aber die mittlere Tem­pe­ra­tur scheint langsamer anzusteigen.

Inzwischen schmelzen allerdings die Gletscher in den Bergen.

Klimatische Kurorte, die unter die Definition der »Klimakurorte« fielen, verschwanden; aber neue entstehen wahrscheinlich anderswo:

»Klimatische Curorte sind Orte, deren Klima eine heilsame Einwirkung auf den mensch­li­chen Organismus äußert, auf den gesunden durch Kräftigung dessel­ben und Fern­hal­tung von Schädlichkeiten, auf den kranken durch den directen Einfluß auf bestehende Lei­den aller Art, auf den krank gewesen oder geschwächten Organismus durch be­le­ben­de und restaurirende Ein­flüsse.«


Figure26

Abbildung 26:
Plakate für den Reisedienst der Schweizerischen PTT (Post-, Telefon- und Te­le­­gra­phen­be­trie­be), 1923 und 1946.


  Go to top

TurnPrevPage TurnNextPage